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Dokument-Nr. 10548

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Beschluss09.11.2010Bundesgerichtshof5 StR 394/10/ 5 StR 440/10/ 5 StR 474/10
zu 5 StR 440/10:
  • Oberlandesgericht Celle, Beschluss09.09.2010, 2 Ws 270/10
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Beschluss09.11.2010

5. Strafsenat des BGH zur Siche­rungs­ver­wahrung: Keine "automatische" Entlassung konven­ti­o­ns­widrig untergebrachter Siche­rungs­ver­wahrterWenn aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten eine hochgradige Gefahr ausgeht, dann darf die Siche­rungs­ver­wahrung weiter vollstreckt werden

Der Bundes­ge­richtshof musste sich die Frage stellen, ob Verurteilte, die wegen vor dem 31. Januar 1998 begangener Taten seit mehr als zehn Jahren erstmals in der Siche­rungs­ver­wahrung untergebracht sind, als Folge des Urteils des Europäischen Gerichtsfhofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 (M. gegen Deutschland - 19359/04) ohne weitere Sachprüfung zu entlassen sind. Diese Frage verneint der 5. Strafsenat des Bundes­ge­richtshofs.

Der 5. Strafsenat des Bundes­ge­richtshofs setzt sich damit in Widerspruch zu einem Beschluss des 4. Strafsenats des Bundes­ge­richtshofs vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09), der ein paralleles Problem bei der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung betrifft. Daher fragt er bei diesem Senat an, ob er an seiner entge­gen­ste­henden Rechtsprechung festhält. Bei den anderen Strafsenaten fragt der 5. Strafsenat wegen grundsätzlicher Bedeutung an, ob sie seiner Rechts­auf­fassung zustimmen. Sollte die Anfrage keine Einigkeit unter den Strafsenaten ergeben, ist die Sache dem Großen Senat für Strafsachen des Bundes­ge­richtshofs zur Entscheidung vorzulegen.

1. Zum Hintergrund des Anfra­ge­be­schlusses:

Mit dem am 31. Januar 1998 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten (BGBl I 1998 S. 160) wurde die seit 1975 geltende strikte Höchstdauer der ersten Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung von zehn Jahren teilweise aufgehoben. Bei fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten insbesondere in Bezug auf drohende Gewalt- und Sexual­straftaten wurde der unbefristete Vollzug der Siche­rungs­ver­wahrung ermöglicht (§ 67 d Abs. 3 Satz 1 StGB). Die Regelung sollte auch für Siche­rungs­ver­wah­rungen gelten, die wegen vor dem Inkrafttreten begangener Taten angeordnet worden waren ("Altfälle").

BVerfG: Siche­rungs­ver­wahrung keine Verletzung des Freiheits­grund­rechts

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärte diese gesetz­ge­be­rische Maßnahme mit Urteil vom 5. Februar 2004 für verfas­sungsgemäß (BVerfGE 109, 133). Das strenge verfas­sungs­rechtliche Rückwir­kungs­verbot für Strafen (Art. 103 Abs. 2 GG) gelte für die Siche­rungs­ver­wahrung als Maßregel der Besserung und Sicherung nicht. Bei fortbestehender erheblicher Gefährlichkeit des Untergebrachten liege auch keine Verletzung des Freiheits­grund­rechts vor; allerdings bestünden strenge Voraussetzungen für die Verhält­nis­mä­ßigkeit der Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung.

EGMR: Verlängerte Siche­rungs­ver­wahrung verletzt Europäische Menschen­rechts­kon­vention

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2009 verletzt die nachträgliche Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung indessen die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK; Artikel 5: Recht auf Freiheit; Artikel 7: Keine Strafe ohne Gesetz). Ungeachtet ihrer Einordnung im deutschen Recht als Maßregel ist die Siche­rungs­ver­wahrung nach Auffassung des Gerichtshofs eine Strafe im Sinne der MRK, für die insbesondere das Rückwir­kungs­verbot des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK gilt. Sie sei wie eine Freiheitsstrafe mit Freiheits­ent­ziehung verbunden und es gebe in Deutschland keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem der Siche­rungs­ver­wahrung.

Straf­voll­stre­ckungs­kammern entscheiden nicht einheitlich

Weil das Urteil des EGMR über den entschiedenen Einzelfall hinaus Bedeutung für alle gleich­ge­la­gerten Sachverhalte hat, müssen die Straf­voll­stre­ckungs­kammern der Landgerichte in Altfällen über die Entlassung einer Reihe von Siche­rungs­ver­wahrten entscheiden. Sie verfahren dabei unterschiedlich. Während ein Teil der Gerichte unter Berufung auf das Urteil des Gerichtshofs alle Siche­rungs­ver­wahrten in die Freiheit entlässt, ordnet ein anderer Teil bei fortbestehender Gefährlichkeit die weitere Vollstreckung der Siche­rungs­ver­wahrung an.

Unter­schiedliche Praxis der Gerichte veranlasst Änderung des Gerichts­ver­fas­sungs­ge­setzes

Die unter­schiedliche Praxis der Gerichte, die sich auch in der Rechtsprechung der - für Beschwerden zuständigen - Oberlan­des­ge­richte fortsetzt, hat den Gesetzgeber zu einer Änderung des Gerichts­ver­fas­sungs­ge­setzes veranlasst. Er hat eine Pflicht zur Vorlegung der Sache an den Bundes­ge­richtshof begründet, wenn ein Oberlan­des­gericht bei der Entscheidung über die Erledigung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung oder über die Zulässigkeit ihrer weiteren Vollstreckung von einer nach dem 1. Januar 2010 ergangenen Entscheidung eines anderen Oberlan­des­ge­richtes abweichen will.

Der Anfra­ge­be­schluss des 5. Strafsenats hat derartige Vorle­gungs­be­schlüsse der Oberlan­des­ge­richte Stuttgart, Celle und Koblenz zum Gegenstand. Diese Gerichte wollen die Siche­rungs­ver­wahrung in Altfällen fortdauern lassen. Sie weichen damit von Entscheidungen der Oberlan­des­ge­richte Frankfurt, Hamm, Karlsruhe und Schleswig ab, nach denen für Altfälle die zur Tatzeit bestehende Höchstfrist der ersten Siche­rungs­ver­wahrung von zehn Jahren zu gelten habe und folglich die Vollstreckung der Unterbringung über diese Frist hinaus unzulässig sei.

2. Zum Inhalt des Anfra­ge­be­schlusses:

Der 5. Strafsenat geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts davon aus, dass die Menschen­rechts­kon­vention und die hierzu ergangenen Entscheidungen des EGMR bei der Auslegung und Anwendung deutschen Rechts zu beachten sind. Er sieht jedoch keine Möglichkeit, im Wege der Geset­zes­aus­legung für Altfälle die zur Tatzeit bestehende Höchstfrist zur Anwendung zu bringen. Die durch den 4. Strafsenat des Bundes­ge­richtshofs vertretene Auffassung, Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK gebiete für Altfälle die Anwendung von Tatzeitrecht, widerspricht dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers. Der Deutsche Bundestag hat die rückwirkende Geltung des § 67 d Abs. 3 Satz 1 StGB ausdrücklich angeordnet. Wo der gegenteilige Wille des Gesetzgebers - wie hier - unmiss­ver­ständlich zum Ausdruck kommt, endet aber nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts die Zulässigkeit konven­ti­o­ns­kon­former Auslegung.

Weitere Siche­rungs­ver­wahrung nur bei hochgradiger Gefahr

Allerdings ist § 67 d Abs. 3 Satz 1 StGB nach Auffassung des 5. Strafsenats bei rückwirkender Anwendung im Lichte der Entscheidung des EGMR einschränkend auszulegen: Die erstmalige Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nach zehnjährigem Vollzug darf nur noch dann weiter vollstreckt werden, wenn aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexua­l­ver­brechen abzuleiten ist. Diesen Grundsatz haben die über die Entlassung von Siche­rungs­ver­wahrten entscheidenden Gerichte unabhängig vom Ergebnis der Anfrage des Senats bei den anderen Strafsenaten ab sofort zwingend zu beachten.

Erläuterungen

StGB § 67 d Abs. 3 Satz 1 - Dauer der Unterbringung (gültig seit 31. Januar 1998) Sind zehn Jahre der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung vollzogen worden, so erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. MRK Artikel 7 - Keine Strafe ohne Gesetz Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.

Quelle: Bundesgerichtshof / ra-online

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