21.11.2024
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Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss15.07.2010

OLG Koblenz: Weiterer Vollzug der Siche­rungs­ver­wahrung unzulässigGerichte haben Menschen­rechts­kon­vention genau wie anderes Gesetzesrecht des Bundes zu beachten und anzuwenden

Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann eine bereits mehr als zehn Jahre vollzogene Siche­rungs­ver­wahrung zweier Strafgefangener nicht weiter aufrecht erhalten werden. Sie sind daher umgehend zu entlassen. Nach ihrer Entlassung tritt für beide Führungs­aufsicht ein. Dies entschied das Oberlan­des­gericht Karlsruhe.

In den zugrunde liegenden Fällen wurde der Siche­rungs­ver­wahrte W. durch ein im Jahre 1981 ergangenes Urteil des Landgerichts Heilbronn wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körper­ver­letzung sowie wegen Vergewaltigung zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von sieben Jahren und neun Monaten, der Siche­rungs­ver­wahrte N. durch ein im Jahre 1984 ergangenes Urteil des Landgerichts Stuttgart wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung sowie sexueller Nötigung zu einer sechsjährigen Gesamt­frei­heits­strafe verurteilt. Gegen beide Täter wurde in den erwähnten Urteilen zugleich erstmals die Sicherungsverwahrung angeordnet, die nach damaliger Gesetzeslage auf zehn Jahre befristet war. Die zum 31. Januar 1998 in Kraft getretene Aufhebung der Befristung der ersten Siche­rungs­ver­wahrung durch den Gesetzgeber führte bei beiden Verurteilten dazu, dass sie nach vollständiger Verbüßung der gegen sie verhängten Haftstrafen und zehnjähriger Siche­rungs­ver­wahrung nicht aus der Vollzugsanstalt entlassen wurden und sich zwischen­zeitlich seit über 22 bzw. 16 Jahren im Vollzug der Siche­rungs­ver­wahrung befinden.

OLG erklärt Siche­rungs­ver­wahrung in beiden Fällen für erledigt ordnet Führungs­aufsicht an

Nachdem die Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts Freiburg im Rahmen der letzten regelmäßigen Überprüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der Siche­rungs­ver­wahrung bei beiden Männern jeweils deren Fortdauer angeordnet hatte, legten diese gegen die sie betreffende Fortdau­e­rent­scheidung jeweils sofortige Beschwerde ein. Diesen Rechtsmitteln hat das Oberlan­des­gericht Karlsruhe nun dadurch stattgegeben, dass die Siche­rungs­ver­wahrung in beiden Fällen für erledigt erklärt und der Eintritt von Führungs­aufsicht festgestellt wurden.

OLG beruft sich auf Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Ausgangspunkt für die Begründung der Rechts­mit­te­l­ent­schei­dungen des Oberlan­des­ge­richts stellt dabei das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 dar, das seit dem 10. Mai 2010 rechtskräftig ist. In dem dortigen Fall M. gegen die Bundesrepublik Deutschland, in der sich der Beschwer­de­führer ebenfalls wegen der Anfang 1998 eingetretenen Geset­ze­s­än­derung weiterhin über zehn Jahre hinaus im Vollzug der erstmals gegen ihn angeordneten Siche­rungs­ver­wahrung befand, hat der EGMR hinsichtlich der zehn Jahre übersteigenden Vollziehung der Siche­rungs­ver­wahrung einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention (MRK) - insbesondere das in Art. 7 Abs. 1 MRK normierte Rückwir­kungs­verbot - festgestellt, weil die Siche­rungs­ver­wahrung in Deutschland Strafcharakter habe.

Nationales Recht ist im Einklang mit den Bestimmungen der Menschen­rechts­kon­vention auszulegen

Das Gericht hat nunmehr entschieden, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch vorliegend in den beiden gleich­ge­la­gerten Fällen berücksichtigt werden muss. Nach der grundlegenden Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 14. Oktober 2004 (so genannter Görgülü-Beschluss) haben deutsche Gerichte die Menschen­rechts­kon­vention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Dabei sind nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, weil sich in ihnen der aktuelle Entwick­lungsstand der Konvention widerspiegelt. Das nationale Recht ist wegen des Grundsatzes der Völker­rechts­freund­lichkeit nach Möglichkeit im Einklang mit den Bestimmungen der MRK auszulegen.

In beiden Fällen war Tatzeitrecht mit Befristung der erstmaligen Siche­rungs­ver­wahrung auf zehn Jahre anzuwenden

§ 2 Abs.6 StGB ermöglicht eine derartige Berück­sich­tigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, so die Richter des Oberlan­des­ge­richts. Nach dieser Vorschrift ist zwar über Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen auch die Siche­rungs­ver­wahrung gehört, grundsätzlich nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Dies gilt jedoch nur, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Das in Art. 7 Abs. 1 MRK in der jetzigen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geregelte Rückwir­kungs­verbot stellt indes eine andere gesetzliche Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB mit der Folge dar, dass für die beiden hier zu entscheidenden "Altfälle" der Siche­rungs­ver­wahrung das Tatzeitrecht (§ 67 d Abs. 1 StGB in der damaligen Fassung) mit einer Befristung der erstmaligen Siche­rungs­ver­wahrung auf zehn Jahre anzuwenden war.

Raum für Abwägung hinsichtlich des Schutzes der Allgemeinheit nicht gegeben

Diese Auslegung verstößt nach Auffassung des Oberlan­des­ge­richts auch nicht gegen die Bindungswirkung der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 5. Februar 2004, mit der klargestellt wurde, dass der rückwirkende Wegfall der Befristung der ersten Siche­rungs­ver­wahrung verfas­sungs­rechtlich unbedenklich ist. Denn ein weitrei­chenderer einfach­ge­setz­licher Rückwir­kungs­schutz über die Menschen­rechts­kon­vention werde dadurch nicht ausgeschlossen. Da das Rückwir­kungs­verbot des Art. 7 MRK absolut gelte, bleibe für eine Abwägung mit dem Schutz der Allgemeinheit kein Raum.

Siche­rungs­ver­wahrung hat sich nach Vollzug von zehn Jahren erledigt

Das Oberlan­des­gericht hat im Ergebnis in beiden Fällen die alte Fassung des § 67 d StGB angewendet, so dass sich die Siche­rungs­ver­wahrung bei den Beschwer­de­führern bereits nach dem Vollzug von zehn Jahren erledigt hat. Beide werden umgehend zu entlassen sein. Zudem tritt für jeden von ihnen Führungs­aufsicht ein, deren Ausgestaltung das Gericht der örtlich ansässigen Straf­voll­stre­ckungs­kammer überlassen hat.

Quelle: ra-online, Oberlandesgericht Koblenz

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