In den zugrunde liegenden Fällen wurde der Sicherungsverwahrte W. durch ein im Jahre 1981 ergangenes Urteil des Landgerichts Heilbronn wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten, der Sicherungsverwahrte N. durch ein im Jahre 1984 ergangenes Urteil des Landgerichts Stuttgart wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung sowie sexueller Nötigung zu einer sechsjährigen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Gegen beide Täter wurde in den erwähnten Urteilen zugleich erstmals die Sicherungsverwahrung angeordnet, die nach damaliger Gesetzeslage auf zehn Jahre befristet war. Die zum 31. Januar 1998 in Kraft getretene Aufhebung der Befristung der ersten Sicherungsverwahrung durch den Gesetzgeber führte bei beiden Verurteilten dazu, dass sie nach vollständiger Verbüßung der gegen sie verhängten Haftstrafen und zehnjähriger Sicherungsverwahrung nicht aus der Vollzugsanstalt entlassen wurden und sich zwischenzeitlich seit über 22 bzw. 16 Jahren im Vollzug der Sicherungsverwahrung befinden.
Nachdem die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Freiburg im Rahmen der letzten regelmäßigen Überprüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung bei beiden Männern jeweils deren Fortdauer angeordnet hatte, legten diese gegen die sie betreffende Fortdauerentscheidung jeweils sofortige Beschwerde ein. Diesen Rechtsmitteln hat das Oberlandesgericht Karlsruhe nun dadurch stattgegeben, dass die Sicherungsverwahrung in beiden Fällen für erledigt erklärt und der Eintritt von Führungsaufsicht festgestellt wurden.
Ausgangspunkt für die Begründung der Rechtsmittelentscheidungen des Oberlandesgerichts stellt dabei das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 dar, das seit dem 10. Mai 2010 rechtskräftig ist. In dem dortigen Fall M. gegen die Bundesrepublik Deutschland, in der sich der Beschwerdeführer ebenfalls wegen der Anfang 1998 eingetretenen Gesetzesänderung weiterhin über zehn Jahre hinaus im Vollzug der erstmals gegen ihn angeordneten Sicherungsverwahrung befand, hat der EGMR hinsichtlich der zehn Jahre übersteigenden Vollziehung der Sicherungsverwahrung einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention (MRK) - insbesondere das in Art. 7 Abs. 1 MRK normierte Rückwirkungsverbot - festgestellt, weil die Sicherungsverwahrung in Deutschland Strafcharakter habe.
Das Gericht hat nunmehr entschieden, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch vorliegend in den beiden gleichgelagerten Fällen berücksichtigt werden muss. Nach der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 (so genannter Görgülü-Beschluss) haben deutsche Gerichte die Menschenrechtskonvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Dabei sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt. Das nationale Recht ist wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit nach Möglichkeit im Einklang mit den Bestimmungen der MRK auszulegen.
§ 2 Abs.6 StGB ermöglicht eine derartige Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, so die Richter des Oberlandesgerichts. Nach dieser Vorschrift ist zwar über Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen auch die Sicherungsverwahrung gehört, grundsätzlich nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Dies gilt jedoch nur, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Das in Art. 7 Abs. 1 MRK in der jetzigen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geregelte Rückwirkungsverbot stellt indes eine andere gesetzliche Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB mit der Folge dar, dass für die beiden hier zu entscheidenden "Altfälle" der Sicherungsverwahrung das Tatzeitrecht (§ 67 d Abs. 1 StGB in der damaligen Fassung) mit einer Befristung der erstmaligen Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre anzuwenden war.
Diese Auslegung verstößt nach Auffassung des Oberlandesgerichts auch nicht gegen die Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004, mit der klargestellt wurde, dass der rückwirkende Wegfall der Befristung der ersten Sicherungsverwahrung verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Denn ein weitreichenderer einfachgesetzlicher Rückwirkungsschutz über die Menschenrechtskonvention werde dadurch nicht ausgeschlossen. Da das Rückwirkungsverbot des Art. 7 MRK absolut gelte, bleibe für eine Abwägung mit dem Schutz der Allgemeinheit kein Raum.
Das Oberlandesgericht hat im Ergebnis in beiden Fällen die alte Fassung des § 67 d StGB angewendet, so dass sich die Sicherungsverwahrung bei den Beschwerdeführern bereits nach dem Vollzug von zehn Jahren erledigt hat. Beide werden umgehend zu entlassen sein. Zudem tritt für jeden von ihnen Führungsaufsicht ein, deren Ausgestaltung das Gericht der örtlich ansässigen Strafvollstreckungskammer überlassen hat.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 19.07.2010
Quelle: ra-online, Oberlandesgericht Koblenz