Im zugrunde liegenden Fall hatte das Landgericht Marburg den mehrfach vorbestraften M. am 17. August 1986 wegen eines im Jahre 1985 begangenen versuchten Raubmordes zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Nach der damaligen Rechtslage hätte M. nach Verbüßung der Freiheitsstrafe maximal zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung verbleiben dürfen. Danach hätte er entlassen werden müssen. Er wäre dann im September 2001 wieder frei gewesen.
Im Jahre 1998 wurde das Gesetz geändert. Die Sicherungsverwahrung endet seitdem nur dann nach zehn Jahren, „wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“ (§ 67 d Abs. 3 StGB).
M. ist der Ansicht, dass diese Gesetzesänderung auf ihn nicht anzuwenden sei, da sie eine rückwirkende und damit unzulässige Erhöhung seiner Strafe bedeute. Er wurde jedoch nach Ablauf der zehn Jahre nicht entlassen. Das Landgericht Marburg stellte fest, dass er weiterhin gefährlich sei, wandte das geänderte Gesetz auf ihn an und hielt die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufrecht.
Nach erfolgloser Beschwerde beim Oberlandesgericht und erfolgloser Verfassungsbeschwerde hatte M. beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Erfolg.
Mit Urteil vom 17. Dezember 2009 stellte die Kammer des EGMR fest, dass die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) verstößt. Nach diesem Urteil ist die Sicherungsverwahrung - ungeachtet ihrer Bezeichnung im deutschen Recht als „Maßregel der Besserung und Sicherung“ - im Sinne der MRK als Strafe zu qualifizieren, für die das Rückwirkungsverbot gilt (Art. 7 Abs. 1 MRK).
Der EGMR hat festgestellt, dass sich M. seit September 2001 konventionswidrig in Haft befindet und die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt. Dieses Urteil ist inzwischen rechtskräftig.
M. hat daraufhin beantragt, die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zu beenden. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg hat die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung mit Beschluss vom 17. Mai 2010 für unzulässig erklärt. Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde eingelegt.
Das Oberlandesgericht Frankfurt hat die sofortige Beschwerde aus folgenden Gründen verworfen:
Die Vertragsstaaten der MRK haben sich verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Diese Pflicht gilt unmittelbar für alle staatlichen Organe, auch die Gerichte. Diese müssen im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ihrer Bindung an Gesetz und Recht in der entschiedenen Sache dem Urteil des EGMR Rechnung tragen, also die festgestellte Konventionsverletzung bei Fortdauer beenden.
Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt (§ 2 Abs. 6 StGB).
Hier ist gesetzlich etwas anderes bestimmt, denn „Gesetz“ ist auch die Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den EGMR. Die Sicherungsverwahrung ist nach der MRK ebenso zu behandeln wie eine Strafe. Die MRK verbietet es, eine höhere Strafe zu verhängen als diejenige, die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedroht war. Die Dauer der Sicherungsverwahrung darf also ebenso wenig nachträglich verlängert werden wie die Dauer einer Freiheitsstrafe.
Auf die Entscheidung im Verfahren gegen M. ist danach § 67 d Abs. 3 StGB in der im Jahre 1985 gültigen Fassung anzuwenden. Diese Vorschrift hatte eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung höchstens für die Dauer von zehn Jahren zugelassen. Am 8. September 2001 hätte er entlassen werden müssen. Da M. nicht nachträglich schlechter gestellt werden darf, hat das Landgericht Marburg die weitere Vollstreckung seiner Sicherungsverwahrung zu Recht für unzulässig erklärt.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 24.06.2010
Quelle: ra-online, Oberlandesgericht Frankfurt am Main