Der Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls war mehrfach wegen schwerer Sexualdelikte zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. 1985 ordnete das Landgericht Stuttgart seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, weil es eine hohe Wahrscheinlichkeit sah, dass der Beschwerdeführer in Freiheit weitere schwere Delikte begehen würde. Die damals geltende Höchstfrist für Sicherungsverwahrung betrug zehn Jahre. Für den Beschwerdeführer lief diese Frist im Oktober 1998 ab. Seit Januar 1998 ist Sicherungsverwahrung unbefristet möglich, was nach dem Willen des Gesetzgebers auch für Altfälle gelten sollte. Deshalb blieb der Beschwerdeführer auch nach 1998 und bis heute in Sicherungsverwahrung, weil er weiterhin als gefährlich eingeschätzt wird.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2004 in einem vergleichbaren Fall festgestellt BVerfG, Urteil v. 05.02.2004 - 2 BvR 2029/01 -), dass die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung aufgrund des 1998 geänderten Rechts mit dem deutschen Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 das Menschenrecht auf Freiheit und den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ (Artikel 5 und 7 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, MRK) als verletzt angesehen.
Das Landgericht Heilbronn hat am 19. März 2010 beschlossen, dass die Sicherungsverwahrung fortdauern soll. Dagegen hat der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde zum 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart eingelegt. Der Senat hat einen zusätzlichen Sachverständigen beauftragt, ein Gutachten zur heutigen Gefährlichkeit des Beschwerdeführers zu erstatten.
Am 12. Mai 2010 hat die Verteidigerin des Beschwerdeführers unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009, das am 10. Mai 2010 rechtskräftig geworden ist, beantragt festzustellen, dass die Sicherungsverwahrung erledigt sei, und den Beschwerdeführer sofort aus der Unterbringung zu entlassen.
Diesen Antrag hat das Oberlandesgericht Stuttgart zurückgewiesen. Nach Ansicht des Gerichts muss die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertretene Rechtsauffassung keinesfalls zu einer sofortigen Entlassung des Untergebrachten führen. Selbst wenn die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers die MRK verletze, zwinge das nicht dazu, den Beschwerdeführer sofort und unter Übergehung des anhängigen Beschwerdeverfahrens zu entlassen.
Nach Prüfung der tatsächlichen Umstände und unter Beachtung der MRK, des Grundgesetzes und der Gesetze über die Sicherungsverwahrung werde entschieden werden. Dabei wird nach dem geltenden Recht, das weder von der MRK noch von dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte außer Kraft gesetzt werde, die gerade nach Ablauf der Zehnjahresfrist der Sicherungsverwahrung immanente sensible Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten einerseits und der staatlichen Schutzpflicht für die Allgemeinheit andererseits, besonders des Schutzes potenzieller Opfer vor gravierenden Verletzungen, zu berücksichtigen sein.
Eine schematische „Vollstreckung“ des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Gestalt sofortiger Entlassung selbst hoch gefährlicher Untergebrachter brächte diese Abwägung in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise aus dem Gleichgewicht.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 02.06.2010
Quelle: ra-online, Oberlandesgericht Stuttgart