18.10.2024
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Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss01.06.2010

Aufrecht­er­haltung der Siche­rungs­ver­wahrung für gefährliche Straftäter zulässigUrteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zwingt nicht zur sofortigen Entlassung Untergebrachter aus Siche­rungs­ver­wahrung

Das Oberlan­des­gericht Stuttgart hat entschieden, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung über die zulässige Höchstdauer hinaus nicht zu einer sofortigen Entlassung untergebrachter gefährliche Straftäter aus Siche­rungs­ver­wahrung führen muss. Ein solches Urteil könne nicht eine schematische „Vollstreckung“ zur Folge haben.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls war mehrfach wegen schwerer Sexualdelikte zu Freiheits­s­trafen verurteilt worden. 1985 ordnete das Landgericht Stuttgart seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, weil es eine hohe Wahrschein­lichkeit sah, dass der Beschwer­de­führer in Freiheit weitere schwere Delikte begehen würde. Die damals geltende Höchstfrist für Siche­rungs­ver­wahrung betrug zehn Jahre. Für den Beschwer­de­führer lief diese Frist im Oktober 1998 ab. Seit Januar 1998 ist Siche­rungs­ver­wahrung unbefristet möglich, was nach dem Willen des Gesetzgebers auch für Altfälle gelten sollte. Deshalb blieb der Beschwer­de­führer auch nach 1998 und bis heute in Siche­rungs­ver­wahrung, weil er weiterhin als gefährlich eingeschätzt wird.

Gerichtshof für Menschenrechte sieht in Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung das Menschenrecht auf Freiheit verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat 2004 in einem vergleichbaren Fall festgestellt BVerfG, Urteil v. 05.02.2004 - 2 BvR 2029/01 -), dass die nachträgliche Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung aufgrund des 1998 geänderten Rechts mit dem deutschen Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 das Menschenrecht auf Freiheit und den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ (Artikel 5 und 7 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, MRK) als verletzt angesehen.

Landgericht beschließt Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung

Das Landgericht Heilbronn hat am 19. März 2010 beschlossen, dass die Siche­rungs­ver­wahrung fortdauern soll. Dagegen hat der Beschwer­de­führer sofortige Beschwerde zum 1. Strafsenat des Oberlan­des­ge­richts Stuttgart eingelegt. Der Senat hat einen zusätzlichen Sachver­ständigen beauftragt, ein Gutachten zur heutigen Gefährlichkeit des Beschwer­de­führers zu erstatten.

Verteidigerin des Beschwer­de­führers verlangt Entlassung aus Unterbringung

Am 12. Mai 2010 hat die Verteidigerin des Beschwer­de­führers unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009, das am 10. Mai 2010 rechtskräftig geworden ist, beantragt festzustellen, dass die Siche­rungs­ver­wahrung erledigt sei, und den Beschwer­de­führer sofort aus der Unterbringung zu entlassen.

Vertretene Rechts­auf­fassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss nicht zur sofortigen Entlassung des Untergebrachten führen

Diesen Antrag hat das Oberlan­des­gericht Stuttgart zurückgewiesen. Nach Ansicht des Gerichts muss die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertretene Rechts­auf­fassung keinesfalls zu einer sofortigen Entlassung des Untergebrachten führen. Selbst wenn die Siche­rungs­ver­wahrung des Beschwer­de­führers die MRK verletze, zwinge das nicht dazu, den Beschwer­de­führer sofort und unter Übergehung des anhängigen Beschwer­de­ver­fahrens zu entlassen.

Gericht wird sensible Abwägung zwischen Freiheits­grundrecht des Untergebrachten und staatlichen Schutzpflicht für die Allgemeinheit vornehmen

Nach Prüfung der tatsächlichen Umstände und unter Beachtung der MRK, des Grundgesetzes und der Gesetze über die Siche­rungs­ver­wahrung werde entschieden werden. Dabei wird nach dem geltenden Recht, das weder von der MRK noch von dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte außer Kraft gesetzt werde, die gerade nach Ablauf der Zehnjahresfrist der Siche­rungs­ver­wahrung immanente sensible Abwägung zwischen dem Freiheits­grundrecht des Untergebrachten einerseits und der staatlichen Schutzpflicht für die Allgemeinheit andererseits, besonders des Schutzes potenzieller Opfer vor gravierenden Verletzungen, zu berücksichtigen sein.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann nicht schematisch umgesetzt werden

Eine schematische „Vollstreckung“ des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Gestalt sofortiger Entlassung selbst hoch gefährlicher Untergebrachter brächte diese Abwägung in verfas­sungs­rechtlich bedenklicher Weise aus dem Gleichgewicht.

Quelle: ra-online, Oberlandesgericht Stuttgart

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