22.11.2024
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Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Beschluss15.07.2010

Schleswig-Holsteinisches Oberlan­des­gericht bestätigt Unzulässigkeit der weiteren Siche­rungs­ver­wahrung in so genannten „Altfällen“Siche­rungs­ver­wahrung darf unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht rückwirkend verlängert werden

Die Siche­rungs­ver­wahrung nach Ablauf von mehr als 10 Jahren ist unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung für Straftäter für erledigt zu erklären. Dies entschied das Oberlan­des­gericht Schleswig-Holstein.

In dem einen der zugrunde liegenden Fälle hatte das Landgericht Lübeck den Untergebrachten im Jahre 1994 wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit fahrlässiger Körper­ver­letzung und versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Strafe aus dem Urteil hat der Untergebrachte bis Mai 1999 vollständig verbüßt. Seitdem befindet er sich in Siche­rungs­ver­wahrung.

In dem anderen konkreten Fall wurde der Untergebrachte im Jahre 1990 durch Urteil des Landgerichts Lübeck wegen gefährlicher Körper­ver­letzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem wurde seine Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung angeordnet. Nach der damaligen Rechtslage war die Siche­rungs­ver­wahrung selbst bei Fortbestand der Gefährlichkeit des Untergebrachten auf 10 Jahre begrenzt (§ 67 d Absatz 1 StGB alter Fassung).

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte hält nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung für nicht vereinbar mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte

Im Jahre 1998 wurde das Gesetz geändert und die Zehnjahresfrist ist mit der Neufassung des § 67 d Absatz 3 StGB entfallen. Aus diesem Grund hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem gleich gelagerten Fall, in dem die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung und die Anlasstat ebenfalls vor der Neufassung des § 67 d Absatz 3 StGB lagen, die Fortdauer einer vor dem 31. Januar 1998 erstmals angeordneten Siche­rungs­ver­wahrung über 10 Jahre hinaus als Verstoß gegen das Rückwir­kungs­verbot und damit als unvereinbar mit Art. 5 Absatz 1 (Recht auf Freiheit) und Art. 7 Absatz 1 (Rückwir­kungs­verbot) der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) angesehen (vgl.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil v. 17.12.2009 - 19359/04 -)

Staats­an­walt­schaft beantragt Fortdauer der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung

Nach Erlass und Bekanntwerden der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat die Staats­an­walt­schaft bei dem Schleswig-Holsteinischen Oberlan­des­gericht bei der örtlich zuständigen Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts Lübeck beantragt, eine Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung dahingehend zu treffen, dass diese auch im Lichte der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fortgesetzt werden dürfe.

Siche­rungs­ver­wahrung ist nach Ablauf der Höchstfrist von 10 Jahren für erledigt zu erklären

Diesen Antrag hat die Straf­voll­stre­ckungs­kammer abschlägig beschieden und in beiden Fällen die verhängte Maßregel der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nach Ablauf der Höchstfrist von 10 Jahren für erledigt erklärt. Zugleich hat die Straf­voll­stre­ckungs­kammer Dauer und Ausgestaltung der von Gesetzes wegen eintretenden Führungs­aufsicht, so unter anderem durch Beiordnung eines Bewäh­rungs­helfers, geregelt.

Gegen diesen Beschluss hat die Staats­an­walt­schaft bei dem Schleswig-Holsteinischen Oberlan­des­gericht Beschwerde eingelegt.

Anordnung nachträglicher Siche­rungs­ver­wahrung für „Altfälle“ konven­ti­o­ns­widrig

Der I. Strafsenat hat die Beschwerden der Staats­an­walt­schaft aus folgenden Gründen verworfen:

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte befasst sich mit zwei Vorschriften aus der EMRK, nämlich Art. 5 und 7 EMRK, die über ein entsprechendes Trans­for­ma­ti­o­ns­gesetz geltendes nationales deutsches Recht geworden sind, und zeigt dabei einen Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts auf. Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt (§ 2 Absatz 6 StGB). Bei konven­ti­o­ns­gemäßer Auslegung des § 2 Absatz 6 StGB ist die Regelung des Art. 7 EMRK als gesetzliche Ausnah­me­re­gelung zu bewerten, die für die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung die Anwendung des Tatzeitrechts fordert. Entsprechend hält auch der Bundes­ge­richtshof in einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Anordnung nachträglicher Siche­rungs­ver­wahrung (§ 66 b Absatz 3 StGB) eine mögliche Rückwirkung des § 2 Absatz 6 StGB auf „Altfälle“ für konven­ti­o­ns­widrig (Beschluss vom 12. Mai 2010, 4 StR 577/09).

Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung nach wie vor auf 10 Jahre zu begrenzen

Eine solche Auslegung des § 2 Absatz 6 StGB ist nicht etwa deshalb als „systemwidrig“ zu bewerten, weil sie die Grenzen des Wortlauts der Bestimmung überschritte und dem Willen des Gesetzgebers widerspräche. Denn mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist festzuhalten, dass die Siche­rungs­ver­wahrung zwar nach nationalem deutschem Sprachgebrauch als „Maßregel“ eingeordnet wird, tatsächlich aber wie „Strafe“ praktiziert wird und wirkt. Ein solches Verständnis des § 2 Absatz 6 StGB steht auch nicht der Intention des Gesetzgebers entgegen. Denn auch wenn diese zunächst darauf gerichtet gewesen sein mag, im Bereich des Maßre­gel­vollzugs eine umfassende Rückwirkung unter Einbeziehung der „Altfälle“ zu erreichen, bedeutet dies – insbesondere im Lichte der Auslegung der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht, dass anzunehmen wäre, der nationale Gesetzgeber wolle sich dauerhaft konven­ti­o­ns­widrig verhalten. Danach gilt in diesen Fällen nach wie vor der die Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung auf 10 Jahre begrenzende § 67 d Absatz 1 StGB in der bis 1998 geltenden Fassung.

Quelle: ra-online, Oberlandesgericht Schleswig-Holstein

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