21.11.2024
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Dokument-Nr. 13822

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Urteil19.07.2012Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte497/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • FamRZ 2012, 1465Zeitschrift für das gesamte Familienrecht mit Betreuungsrecht (FamRZ), Jahrgang: 2012, Seite: 1465
  • NJW 2013, 2953Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2013, Seite: 2953
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ergänzende Informationen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil19.07.2012

Genehmigung zum Erwerb tödlicher Medikamente für gelähmte Patientin: Deutsche Gerichte hätten Beschwerde eines Witwers prüfen müssenEGMR rügt Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Menschenrechts­konvention

Die Weigerung deutscher Gerichte, die Beschwerde eines Mannes zu prüfen, der für seine querschnitts­gelähmte und auf künstliche Beatmung angewiesene Frau die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Medika­men­tendosis zur Selbsttötung erteilt haben wollte, stellt ein Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8 der Europäischen Menschenrechts­konvention dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Beschwer­de­führer, Ulrich Koch, ist deutscher Staats­an­ge­höriger, 1943 geboren, und lebt in Braunschweig. Seine Frau war nach einem Sturz vor dem eigenen Haus im Jahr 2002 querschnitts­gelähmt und auf künstliche Beatmung sowie ständige Betreuung durch Pflegepersonal angewiesen; sie wollte daher ihrem Leben ein Ende setzen. Im November 2004 beantragte sie beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital, die ihr die Selbsttötung zu Hause ermöglicht hätte. Das Bundesinstitut lehnte den Antrag ab, da ihr Suizidwille nicht mit dem Zweck des Betäu­bungs­mit­tel­ge­setzes vereinbar sei, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Ulrich Koch und seine Frau legten gegen die Entscheidung Widerspruch ein. Am 12. Februar 2005 nahm sich seine Frau mit Hilfe des Vereins Dignitas in der Schweiz das Leben.

Deutsche Gerichte erklären Ulrich Koch für nicht klage- bzw. beschwer­de­befugt

Am 3. März 2005 wies das Bundesinstitut den Widerspruch gegen seine Entscheidung zurück und im April desselben Jahres erhob Ulrich Koch Forts­et­zungs­fest­stel­lungsklage mit dem Antrag festzustellen, dass die Entscheidungen des Instituts rechtswidrig waren; es sei dazu verpflichtet gewesen, seiner Frau die beantragte Erlaubnis zu erteilen. Das Verwal­tungs­gericht Köln wies die Klage mit der Begründung ab, Ulrich Koch könne nicht selbst beanspruchen, Opfer einer Verletzung seiner eigenen Rechte zu sein und sei somit nicht klagebefugt. Zugleich vertrat das Gericht die Auffassung, die Entscheidungen des Bundes­in­stitutes seien rechtmäßig und stünden im Einklang mit Artikel 8 EMRK. Im Juni 2007 wies das Oberver­wal­tungs­gericht Nordrhein-Westfalen seine Berufung zurück und am 4. November 2008 nahm das Bundes­ver­fas­sungs­gericht seine Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung an, da er sich nicht auf ein posthumes Recht auf Achtung der Menschenwürde seiner Frau berufen könne und nicht in ihrem Namen beschwer­de­befugt sei (Az. 1 BvR 1832/07).

Ulrich Koch rügt Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie des Recht auf wirksame Beschwerde

Ulrich Koch sah in den Entscheidungen des Bundesinstituts einen Verstoß gegen die Rechte seiner Frau gemäß Artikel 8 EMRK, insbesondere gegen ihr Recht auf menschen­würdiges Sterben, und machte geltend, dass auch sein eigenes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden sei, da er sich gezwungen gesehen habe, in die Schweiz zu reisen, um seiner Frau die Selbsttötung zu ermöglichen. Darüber hinaus beklagte er sich, dass die deutschen Gerichte seine Rechte gemäß Artikel 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verletzt hätten, indem sie ihm das Recht absprachen, die Weigerung des Bundesinstituts anzufechten, seiner Frau die beantragte Erlaubnis zu erteilen.

EGMR erklärt Beschwerde Ulrich Kochs für zulässig

Die Beschwerde wurde am 22. Dezember 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Eine mündliche Verhandlung der Kammer fand am 23. November 2010 statt. Die Beschwerde wurde am 31. Mai 2011 für zulässig erklärt. Der Verein DIGNITAS - Menschenwürdig leben - Menschenwürdig sterben mit Sitz in der Schweiz und der Verein Aktion Lebensrecht für Alle mit Sitz in Deutschland, der sich für den Schutz menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod einsetzt, gaben als Drittparteien Stellungnahmen ab.

Ulrich Koch macht geltend selbst in seinen Rechten nach Artikel 8 verletzt worden zu sein

Der Gerichtshof hatte zunächst zu prüfen, ob ein Eingriff in Ulrich Kochs Rechte nach Artikel 8 vorlag, was die deutsche Bundesregierung bestritt. Der Gerichtshof stellte fest, dass sich der Fall insofern von früheren Beschwerden unterschied, die von Erben oder Verwandten einer verstorbenen Person in deren Namen eingelegt worden waren, als Ulrich Koch geltend machte, selbst in seinen Rechten nach Artikel 8 verletzt worden zu sein, da das Leiden seiner Frau und die Umstände ihres Todes ihn als mitfühlenden Ehemann und Betreuer beeinträchtigt hätten.

Persönliches Engagement Ulrich Kochs spiegelt sich in Weiter­ver­folgung des Verfahrens auch nach dem Tod der Ehefrau wider

Ulrich Koch und seine Frau waren 25 Jahre verheiratet gewesen und hatten eine enge Bindung gehabt. Ulrich Koch hatte seine Frau auf ihrem Leidensweg begleitet, hatte schließlich ihren Wunsch akzeptiert, ihrem Leben ein Ende zu setzen und war mit ihr in die Schweiz gefahren, um diesem Wunsch umzusetzen. Sein persönliches Engagement zeigte sich zudem darin, dass er gemeinsam mit seiner Frau Widerspruch gegen die Entscheidung des Bundes­in­stitutes eingelegt und das Verfahren vor den deutschen Gerichten nach ihrem Tod in seinem eigenen Namen weiter verfolgt hatte. In Anbetracht dieser Ausnah­me­si­tuation erkannte der Gerichtshof an, dass Ulrich Koch ein starkes und fortbestehendes Interesse daran hatte, seine ursprünglich vorgebrachte Beschwerde in der Sache gerichtlich prüfen zu lassen. Zudem betraf der Fall grundlegende Fragen im Zusammenhang mit dem Wunsch von Patienten, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, die über die persönliche Situation und das Interesse Ulrich Kochs und seiner Frau hinaus von allgemeinem Interesse waren.

Schließlich konnte der Gerichtshof dem Argument der deutschen Bundesregierung nicht zustimmen, es sei nicht notwendig gewesen, Ulrich Koch das Recht einzuräumen, das Verfahren vor den deutschen Gerichten im Namen seiner Frau weiter zu verfolgen, da sie dessen Ausgang hätte abwarten können. Das Verfahren war zum einen erst rund drei Jahre und neun Monate nach ihrem Tod abgeschlossen. In Anbetracht der schwerwiegenden Fragen, die der Fall aufwirft und der unwider­ruf­lichen Folgen, die der Erlass einer einstweiligen Verfügung notwen­di­gerweise mit sich gebracht hätte, war der Gerichtshof zudem nicht davon überzeugt, dass ein Antrag auf eine solche Verfügung ein angemessener Weg gewesen wäre, um das Verfahren zu beschleunigen.

EGMR bejaht Eingriff in Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Angesichts dieser Erwägungen kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass Ulrich Koch beanspruchen konnte, direkt von der Weigerung der deutschen Behörden, seiner Frau die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Medika­men­tendosis zu erteilen, betroffen zu sein. Folglich lag ein Eingriff in seine Rechte gemäß Artikel 8 vor.

Deutsche Bundesregierung weist keinen legitimen Zweck für Weigerung der Beschwer­de­prüfung vor

Hinsichtlich der Frage, ob die Rechte Ulrich Kochs im Verfahren vor den deutschen Gerichten ausreichend geschützt worden waren, stellte der Gerichtshof fest, dass die Gerichte es abgelehnt hatten, seine Beschwerde in der Sache zu prüfen. Sie waren der Auffassung, er könne sich nicht auf seine eigenen Rechte – weder nach deutschem Recht noch nach Artikel 8 der Konvention – berufen, noch sei er im Namen seiner verstorbenen Frau klagebefugt. Die deutsche Bundesregierung hatte nicht vorgetragen, dass die Weigerung der Gerichte, die Beschwerde in der Sache zu prüfen, einem der nach Artikel 8 zulässigen legitimen Zwecke gedient hätte. Der Gerichtshof war auch nicht der Auffassung, dass der Eingriff in die Rechte Ulrich Kochs einem dieser legitimen Zwecke diente. Folglich lag eine Verletzung seines Rechts nach Artikel 8 auf gerichtliche Prüfung seiner Beschwerde in der Sache vor.

Sachliche Prüfung der materiellen Beschwerde in erster Linie Aufgabe deutscher Gerichte

Im Hinblick auf die materielle Beschwerde Ulrich Kochs war der Gerichtshof der Auffassung, dass es in erster Linie Aufgabe der deutschen Gerichte war, diese in der Sache zu prüfen. Dies galt umso mehr, als unter den Mitgliedstaaten des Europarats kein Konsens hinsichtlich der Zulässigkeit jeglicher Form der Beihilfe zur Selbsttötung besteht. Einer rechts­ver­glei­chenden Untersuchung des Gerichtshofs zufolge ist es Ärzten in nur vier der 42 untersuchten Staaten erlaubt, Patienten ein tödliches Medikament zum Zweck der Selbsttötung zu verschreiben. Da die sachliche Prüfung der Beschwerde primär Pflicht der deutschen Behörden war, entschied der Gerichtshof, sich auf die Prüfung des Falls unter verfah­rens­recht­lichen Gesichtspunkten zu beschränken.

Ulrich Koch nach Artikel 8 nicht im Namen seiner Frau klagebefugt

Was die Frage betraf, ob Ulrich Koch im Namen seiner verstorbenen Frau klagebefugt war, bezog sich der Gerichtshof auf frühere Fälle, in denen er festgestellt hatte, dass die Rechte nach Artikel 8 nicht übertragbar sind und dass Beschwerden nach diesem Artikel daher nicht von einem engen Verwandten oder Erben der betroffenen Person verfolgt werden können. Dem Gerichtshof lagen keine ausreichenden Gründe vor, im Fall Koch von diesen Schluss­fol­ge­rungen abzuweichen. Folglich war er nach Artikel 8 nicht im Namen seiner Frau klagebefugt. Der Gerichtshof wies diesen Teil der Beschwerde als unzulässig zurück.

Angesichts seiner Schluss­fol­ge­rungen nach Artikel 8 sah es der Gerichtshof nicht als notwendig an, zu prüfen, ob ein Verstoß gegen Ulrich Kochs Rechte nach Artikel 13 oder gegen sein Recht auf Zugang zum Gericht nach Artikel 6 der Konvention vorlag.

Bundesrepublik zur Entschä­di­gungs­zahlung verpflichtet

Der Gerichtshof entschied, dass Deutschland Ulrich Koch 2.500 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 26.736,25 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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