Dokument-Nr. 12084
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Beschluss31.05.2011
EGMR lässt Beschwerde eines Witwers wegen Verweigerung eines Medikaments zur Selbsttötung zuDeutsche Behörden verweigern gelähmter Patientin Erwerb eines tödlichen Medikaments
Der Europäische Gerichtshof hat die Beschwerde eines Witwers gegen die deutschen Behörden für zulässig erklärt. Die Behörden hatten der inzwischen verstorbenen Frau des Beschwerdeführers die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Medikamentendosis verweigert, die ihr die Selbsttötung aufgrund einer unheilbaren Lähmung ermöglicht hätte.
Der Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls, Ulrich Koch, ist deutscher Staatsangehöriger, 1943 geboren, und lebt in Braunschweig. Seine Frau war nach einem Sturz vor dem eigenen Haus im Jahr 2002 querschnittsgelähmt und auf künstliche Beatmung sowie ständige Betreuung durch Pflegepersonal angewiesen; sie wollte daher ihrem Leben ein Ende setzen. Im November 2004 beantragte sie beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital, die ihr die Selbsttötung zu Hause ermöglicht hätte. Das Bundesinstitut lehnte den Antrag ab, da ihr Suizidwille nicht mit dem Zweck des Betäubungsmittelgesetzes vereinbar sei, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Ulrich Koch und seine Frau legten gegen die Entscheidung Widerspruch ein. Am 12. Februar 2005 nahm sich seine Frau mit Hilfe des Vereins Dignitas in der Schweiz das Leben.
Deutsche Gerichte halten Witwer nicht für klage- bzw. beschwerdebefugt
Am 3. März 2005 wies das Bundesinstitut den Widerspruch gegen seine Entscheidung zurück und im April erhob Ulrich Koch Fortsetzungsfeststellungsklage mit dem Antrag festzustellen, dass die Entscheidungen des Instituts rechtswidrig waren; es sei dazu verpflichtet gewesen, seiner Frau die beantragte Erlaubnis zu geben. Das Verwaltungsgericht Köln wies die Klage mit der Begründung ab, Ulrich Koch könne nicht selbst beanspruchen, Opfer einer Verletzung seiner eigenen Rechte zu sein und sei somit nicht klagebefugt. Im Juni 2007 wies das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen seine Berufung zurück und am 4. November 2008 nahm das Bundesverfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, da er sich nicht auf ein posthumes Recht auf Achtung der Menschenwürde seiner Frau berufen könne und nicht in ihrem Namen beschwerdebefugt sei (Az. 1 BvR 1832/07).
Witwer sieht Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie sein Recht auf wirksame Beschwerde verletzt
Ulrich Koch sieht in der Weigerung des Bundesinstituts einen Verstoß gegen die Rechte seiner Frau gemäß Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere gegen ihr Recht auf menschenwürdiges Sterben, und macht geltend, dass auch sein eigenes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden sei, da er gezwungen gewesen sei, in die Schweiz zu reisen, um seiner Frau die Selbsttötung zu ermöglichen. Darüber hinaus beklagt er sich, dass die deutschen Gerichte seine Rechte gemäß Artikel 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verletzt hätten, indem sie ihm das Recht absprachen, die Weigerung des Bundesinstituts anzufechten, seiner Frau die beantragte Erlaubnis zu erteilen.
Die Beschwerde wurde am 22. Dezember 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.
Schweizer Verein DIGNITAS gibt als Drittpartei Stellungnahme ab
Der Verein "DIGNITAS - Menschenwürdig leben - Menschenwürdig sterben" mit Sitz in der Schweiz und der Verein Aktion Lebensrecht für Alle mit Sitz in Deutschland, der sich für den Schutz menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod einsetzt, gaben als Drittparteien Stellungnahmen ab.
Opfereigenschaft Ulrich Kochs muss geklärt werden
Der Gerichtshof nahm den Einwand der deutschen Bundesregierung zur Kenntnis, Ulrich Koch könne nicht beanspruchen, Opfer einer Verletzung seiner Konventionsrechte zu sein, da er nicht selbst von den staatlichen Maßnahmen betroffen gewesen sei, die Beschwerdegegenstand sind. Der Gerichtshof gelangte allerdings zu der Auffassung, dass die Opfereigenschaft Ulrich Kochs eine Frage aufwirft, die zusammen mit seiner Beschwerde gemäß Artikel 13 über das Fehlen einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit untersucht werden muss; er wird sie folglich mit der Prüfung der Begründetheit verknüpfen.
Beschwerden des Witwers nicht offensichtlich unbegründet und folglich zulässig
Ulrich Kochs Beschwerde gemäß Artikel 8 wirft schwerwiegende Sachverhalts- und Rechtsfragen nach der Konvention auf und ist nicht offensichtlich unbegründet; folglich erklärte sie der Gerichtshof für zulässig. Mit dieser Beschwerde verknüpft wird der Gerichtshof die Frage prüfen, ob Artikel 13 in Verbindung mit Artikel 8 anwendbar ist. Die Beschwerde, dass die deutschen Gerichte das Recht Ulrich Kochs auf eine wirksame Beschwerde verletzt hätten, indem sie ihm das Recht absprachen, die Weigerung des Bundesinstituts anzufechten, seiner Frau die beantragte Erlaubnis zu erteilen, ist ebenfalls nicht offensichtlich unbegründet und folglich zulässig.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 05.08.2011
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online
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