18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss30.07.2009

22 Jahre sind zu lang: Verfas­sungs­be­schwerde wegen überlanger Verfahrensdauer erfolgreichRecht auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt

Wenn ein erstin­sta­nz­liches Gerichts­ver­fahren nach mehr als 22 Jahren noch nicht beendet ist, verstößt dies gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Die Beschwer­de­führerin war Eigentümerin mehrerer Grundstücke mit Kiesvorkommen. Diese wurden 1986 versteigert, nachdem das im Ausgangs­ver­fahren beklagte Kreditinstitut seine Zusage, der Beschwer­de­führerin zur Abwendung der Zwangs­ver­stei­gerung einen Kredit zu gewähren, am Tag der Versteigerung zurückgezogen hatte. Im Jahr 1987 reichte die Beschwer­de­führerin beim Landgericht Hamburg eine Klage auf Schadensersatz gegen das Kreditinstitut ein, weil sie der Meinung war, die Grundstücke seien weit unter Wert verschleudert worden. Im Jahr 1990 sprach das Oberlan­des­gericht in zweiter Instanz der Beschwer­de­führerin den Schaden­s­er­satz­an­spruch dem Grunde nach zu Zweidritteln zu und verwies die Sache zur Entscheidung über die Höhe des Schaden­s­er­satz­an­spruchs an das Landgericht zurück. Eine Entscheidung im Betrags­ver­fahren erging bis heute nicht. Zunächst führte das Landgericht von Februar 1991 bis September 1993 das Verfahren auf Bitten der Beschwer­de­führerin wegen schwebender Vergleichs­ver­hand­lungen nicht fort. Während des Betrags­ver­fahrens wechselte die Beschwer­de­führerin mehrfach den Prozess­be­voll­mäch­tigten, änderte wiederholt ihre Klaganträge und stellte mehrere Prozess­kos­ten­hil­feanträge. Soweit ihre Prozess­kos­ten­hil­feanträge abgelehnt wurden, focht die Beschwer­de­führerin die Entscheidungen des Landgerichts an. Überdies stellte sie verschiedene Befan­gen­heits­anträge gegen die Richter der Zivilkammer und die vom Gericht beauftragten Sachver­ständigen. Im Jahr 1996 gab das Landgericht ein erstes Gutachten zur Feststellung des Verkehrswerts der versteigerten Grundstücke ohne Berück­sich­tigung der Kiesvorkommen in Auftrag. Im Jahr 2007 beauftragte das Landgericht einen anderen Sachver­ständigen mit der erneuten Bewertung der Grundstücke; diesmal unter Berück­sich­tigung der Kiesvorkommen. Nach Erstattung des Gutachtens Anfang 2008 lehnte die Beschwer­de­führerin den Sachver­ständigen erfolgreich als befangen ab, woraufhin das Landgericht die Einholung eines Gutachtens durch einen neuen Sachver­ständigen anordnete. Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde wandte sich die Beschwer­de­führerin gegen die überlange Dauer des Haupt­sa­che­ver­fahrens und gegen die Zurückweisung eines ihrer Prozess­kos­ten­hil­feanträge.

Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat die Verfas­sungs­be­schwerde der Beschwer­de­führerin angenommen, soweit sie eine Verletzung ihres aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechts auf effektiven Rechtsschutz rügt. Die bisherige Dauer des Verfahrens begründet einen Verfas­sungs­verstoß. Auch wenn die Beschwer­de­führerin durch ihr Prozess­ver­halten zur Länge des Verfahrens beigetragen hat, ist es nach Abwägung sämtlicher Umstände verfas­sungs­rechtlich nicht hinnehmbar, dass der Abschluss des erstin­sta­nz­lichen Verfahrens nach über 22 Jahren noch nicht absehbar ist. Das Landgericht ist nunmehr gehalten, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem möglichst raschen Abschluss des Verfahrens führen. Angesichts der Außer­ge­wöhn­lichkeit der verfas­sungs­widrigen bisherigen Gesamtdauer wird auch das Präsidium des Landgerichts Sorge für die Sicherstellung von Rahmen­be­din­gungen zu tragen haben, unter denen die Kammer das Verfahren bestmöglich fördern kann.

Gerichts­ver­fahren müssen in angemessener Zeit zu einem Abschluss gebracht werden

In der verfas­sungs­ge­richt­lichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich aus Art. 2 Abs. 1 iVm dem Rechts­s­taats­prinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes für bürger­lichrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn ableiten lässt und sich daraus die Verpflichtung der Fachgerichte ergibt, Gerichts­ver­fahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist aber stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen. Es gibt keine allge­mein­gültigen Zeitvorgaben; verbindliche Richtlinien können auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht entnommen werden.

Verfahrensdauer im konkreten Fall

Bei der Frage der verfas­sungs­recht­lichen Rechtfertigung der Verfahrensdauer im vorliegenden Fall ist zu bedenken, dass die Bestimmung der Schaden­s­er­satzhöhe in Anbetracht der Schwierigkeit der Bewertung von Kiesgrund­s­tücken nicht unerhebliche Probleme aufwirft, zumal angesichts der unüber­sicht­lichen Rechts­ver­hältnisse unklar ist, welche Belastungen der Grundstücke im Zeitpunkt der Zwangs­ver­stei­gerung bestanden. Überdies ist zu berücksichtigen, dass die Beschwer­de­führerin durch eine Vielzahl von Frist­ver­län­ge­rungs­an­trägen, mehrfache Anwaltswechsel, vier Befan­gen­heits­anträge, mehrfache Klagänderungen sowie durch das von ihr veranlasste Nichtfortführen des Verfahrens zwischen 1991 und 1993 selbst erhebliche Verzögerungen verursacht hat.

Grenze des noch Hinnehmbaren ist deutlich überschritten

Gleichwohl sind hier angesichts der außergewöhnlich langen Verfahrensdauer die Grenzen des für einen Prozess­be­tei­ligten unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes noch Hinnehmbaren deutlich überschritten: Die Pflicht zur nachhaltigen Beschleunigung des Verfahrens durch die Fachgerichte wird dadurch verstärkt, dass die Beschwer­de­führerin durch den Rechtsstreit erheblichen finanziellen Lasten ausgesetzt ist. Außerdem hat sie trotz Zuerkennung von Zweidritteln des Anspruchs dem Grunde nach auch nach beinahe 19 Jahren noch keinen vollstreckbaren Titel erhalten.

Zeitweise Untätigkeit des Landgerichts

Zu justiziell zu verantwortenden Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen ist es im Zusammenhang mit Wechseln in der Besetzung der entscheidenden Kammer gekommen, die eine zeitweise Untätigkeit des Landgerichts zur Folge hatten. Diese sind dem Staat jedenfalls insoweit zuzurechnen, als sie durch eine anderweitige Organisation hätten verhindert werden können. Dies gilt insbesondere für voraussehbare personelle Engpässe.

Landgericht hätte alle Möglichkeiten zur Verfah­rens­be­schleu­nigung nutzen müssen

Entscheidend für die Feststellung des Verfas­sungs­ver­stoßes ist, dass sich das Landgericht angesichts der außergewöhnlich langen Verfahrensdauer nicht darauf hätte beschränken dürfen, das Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Vielmehr hätte es unter Zugrundelegung seines rechtlichen Ausgangspunktes sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfah­rens­be­schleu­nigung nutzen müssen. Gegebenenfalls wäre es gehalten gewesen, sich um gerichtsinterne Entlas­tungs­maß­nahmen zu bemühen. Es ist nicht ersichtlich, dass das Landgericht besondere Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens ergriffen hätte. Eine Beschleunigung war hier jedenfalls nicht ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Beweisaufnahme. Bereits bei Einholung des ersten Gutachtens hatte das Landgericht erkannt, dass ein weiteres Gutachten zur Bewertung der Kiesvorkommen erforderlich sein würde. Dies hätte es jedenfalls unverzüglich nach Eingang des ersten Gutachtens, wenn nicht schon parallel in Auftrag geben müssen. Überdies hätte das Landgericht die Hauptsache während der schwebenden Beschwer­de­ver­fahren über die Prozess­kos­ten­hil­feent­schei­dungen weiter betreiben können. Der organi­sa­to­rische Aufwand für die Anfertigung eines Aktendoppels konnte angesichts der Verfahrensdauer keinen Hinderungsgrund darstellen.

Soweit die Beschwer­de­führerin sich gegen die Prozess­kos­ten­hil­feent­schei­dungen wendet, wurde die Verfas­sungs­be­schwerde mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des BVerfG vom 07.08.2009

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