21.11.2024
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Dokument-Nr. 1024

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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.09.2005

BVerfG: Achtjährige Unter­su­chungshaft ist zu langErfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Aufrecht­er­haltung von Unter­su­chungshaft

Die Verfas­sungs­be­schwerde eines Angeklagten, der sich seit acht Jahren wegen des Verdachts des Herbeiführens einer Spreng­stof­f­ex­plosion mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch in Unter­su­chungshaft befindet, war erfolgreich.

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, dass die angegriffenen Entscheidungen des Oberlan­des­ge­richts und des Landgerichts den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzen. Die Sache wurde an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen. Dieses hat unter Beachtung der vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht angeführten Gesichtspunkte erneut über die Frage der Haftfortdauer zu entscheiden.

Sachverhalt:

Der Beschwer­de­führer befindet sich seit dem 2. August 1997 in Untersuchungshaft. Ihm liegt zur Last, im Juli 1997 vorsätzlich eine Gasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwer­de­führer gehörende Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner tötete und zwei weitere schwer verletzte. Nach einer Verfahrensdauer von über vier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001 wegen Herbeiführens einer Spreng­stof­f­ex­plosion mit Todesfolge mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass die Schuld des Beschwer­de­führers besonders schwer wiege.

Gegen dieses Urteil legte der Beschwer­de­führer Revision ein, die er im März 2002 begründete. Die Bundes­an­walt­schaft nahm hierzu am 30. September 2002 Stellung. Der Bundes­ge­richtshof bestimmte Termin zur Haupt­ver­handlung über die Revision auf den 10. Juli 2003. Mit Urteil vom 24. Juli 2003 hob er das Urteil des Landgerichts wegen eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurück. Die neue Haupt­ver­handlung gegen den Beschwer­de­führer hat am 6. Februar 2004 begonnen und dauert an.

Der Antrag des Beschwer­de­führers, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, blieb vor Landgericht und Oberlan­des­gericht ohne Erfolg. Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg und führte zur Aufhebung dieser Entscheidungen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Das Freiheits­grundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) gebietet in Haftsachen eine angemessene Beschleunigung des gesamten Strafverfahrens bis zu dessen rechtskräftigen Abschluss.

Das Oberlan­des­gericht hat nicht berücksichtigt, dass Umstände vorliegen, die den Schluss auf eine erhebliche, dem Staat zuzurechnende vermeidbare Verfah­rens­ver­zö­gerung nahe legen. Durch die Aufhebung des erstin­sta­nz­lichen Urteils und die Zurück­ver­weisung der Sache liegt eine dem Staat zuzurechnende Verfah­rens­ver­zö­gerung schon deshalb vor, weil das ergangene Urteil verfah­rens­feh­lerhaft war (vgl. hierzu bereits Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05). Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat zwar festgestellt, dass es grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, die infolge der Durchführung eines Revisi­ons­ver­fahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Hiervon ist aber dann eine Ausnahme geboten, wenn das Revisi­ons­ver­fahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfah­rens­fehlers gedient hat. Dies ist hier der Fall.

Außerdem hat das Oberlan­des­gericht im Rahmen der Haftprüfung nur den Zeitraum seit Aufhebung des ersten Urteils und Zurück­ver­weisung der Sache an das Landgericht und nicht das gesamte Strafverfahren in den Blick genommen. Das Beschleu­ni­gungsgebot erfasst jedoch das gesamte Strafverfahren (vgl. zuletzt Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05). Darlegungs- und recht­fer­ti­gungs­be­dürftig ist deshalb schon der Umstand, dass die erste Haupt­ver­handlung erst im Juli 1999, also nahezu zwei Jahre nach dem Beginn der Unter­su­chungshaft begonnen hat, und darüber hinaus bis zur ersten Verurteilung im August 2001 nochmals zwei weitere Jahre und 120 Haupt­ver­hand­lungstage verstrichen sind. Ferner, dass die Fertigung der Stellungnahme des General­bun­des­anwalts – trotz einer Verfahrensdauer von damals bereits vier Jahren und sieben Monaten – weitere sechs Monate in Anspruch genommen hat, die Haupt­ver­handlung über die Revision durch den Bundes­ge­richtshof erst nach Ablauf eines weiteren Zeitraums von neun Monaten terminiert wurde und schließlich nach Aufhebung des Urteils des Landgerichts im Juli 2003 die neue Haupt­ver­handlung erst im Februar 2004 und damit weitere sieben Monate später begonnen hat. Diese Umstände sind schon jeder für sich, aber erst recht in ihrer Gesamtheit geeignet, den Schluss auf eine vermeidbare, durch ein Verschulden der Straf­ver­fol­gungs­be­hörden und Gerichte verursachte Verfah­rens­ver­zö­gerung zu tragen. Es kann in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden, dass die Straf­ver­fol­gungs­be­hörden und Gerichte nach acht Jahren Unter­su­chungshaft nicht mehr in Händen halten als einen dringenden Tatverdacht.

Darüber hinaus hat das Oberlan­des­gericht auch maßgebliche Abwägungs­grundsätze nicht beachtet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts verstärkt sich das Gewicht des Freiheits­an­spruchs des Unter­su­chungs­ge­fangenen gegenüber dem Straf­ver­fol­gungs­in­teresse des Staates mit zunehmender Dauer der Haft. Der Freiheits­an­spruch des noch nicht verurteilen Beschuldigten ist den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheits­be­schrän­kungen ständig als korrektiv entge­gen­zu­halten. Allein die stereotypen, in den Haftfort­dau­e­rent­schei­dungen hier enthaltenen und auch sonst häufig anzutreffenden Formulierungen, das überragende Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer wirksamen Strafverfolgung einer durch die besondere Schwere des Schuldvorwurfs gekenn­zeichneten Tat überwiege den durch die Verfassung garantierten Freiheits­an­spruch des noch nicht verurteilten Beschwer­de­führers, kann nach einem Zeitraum von über acht Jahren die Fortdauer von Unter­su­chungshaft nicht mehr rechtfertigen.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 94/2005 des BVerfG vom 30.09.2005

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