18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss29.12.2005

Erneut Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Aufrecht­er­haltung von Unter­su­chungshaft erfolgreich

Die Verfas­sungs­be­schwerde eines Angeklagten, der sich seit fünf Jahren und zehn Monaten wegen des Verdachts der Verabredung zum Mord sowie mehrerer Betäu­bungs­mittel- und Waffendelikte in Unter­su­chungshaft befindet, war erfolgreich.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass der angegriffene Beschluss des Oberlan­des­ge­richts, mit dem die weitere Haftfortdauer angeordnet wurde, den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletze. Das Oberlan­des­gericht habe die der Justiz anzulastenden Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen nicht hinreichend gewürdigt.

Das Oberlan­des­gericht hat unter Beachtung der vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht aufgezeigten Gesichtspunkte unverzüglich erneut zu entscheiden. Dabei wird es zu beachten haben, dass die festgestellten Verletzungen des Beschleu­ni­gungs­gebotes eine weitere Fortdauer der Unter­su­chungshaft nicht mehr rechtfertigen.

Sachverhalt:

Der Beschwer­de­führer ist lettischer und griechischer Staats­an­ge­höriger. Er befindet sich seit dem 17. Februar 2000 in Unter­su­chungshaft. Nach Anklageerhebung fand gegen den Beschwer­de­führer und zwei weitere Angeklagte im Zeitraum zwischen August 2001 und September 2004 an 156 Verhand­lungstagen vor dem Schwurgericht die Haupt­ver­handlung statt. Am letzten Verhandlungstag sicherte die Staats­an­walt­schaft dem Beschwer­de­führer im Rahmen einer Verfah­rens­ab­sprache zu, bei tadellosem Verhalten des Beschwer­de­führers im Strafvollzug zum Zwei-Drittel- Zeitpunkt einen Antrag auf bedingte Entlassung zu stellen. Mit Urteil vom 1. September 2004 wurde der Beschwer­de­führer zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Das Urteil wurde unter fast vollständiger Ausschöpfung der gesetzlichen Urteils­ab­set­zungsfrist nach 8 Monaten schriftlich begründet. Sechs Wochen später wurde es dem Beschwer­de­führer zugestellt. Gegen dieses Urteil legte der Beschwer­de­führer Revision ein, über die noch nicht entschieden ist.

Der Antrag des Beschwer­de­führers, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen, blieb vor dem Landgericht und dem Oberlan­des­gericht ohne Erfolg. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Es kann dahinstehen, ob die vom Beschwer­de­führer angegriffene Termi­nie­rung­s­praxis des Vorsitzenden der Schwur­ge­richts­kammer (nur ein regelmäßiger wöchentlicher Sitzungstag) mit den Vorgaben des Beschleu­ni­gungs­gebotes in Haftsachen unvereinbar war. Offen bleiben kann auch die hiermit im Zusammenhang stehende Frage, ob die eingetretenen Verzögerungen Ausdruck einer auf Langfristigkeit angelegten Vertei­di­gungs­strategie gewesen sind und daher möglicherweise dem Gericht nicht zugerechnet werden können. Jedenfalls verstoßen die nach Erlass des Urteils des Landgerichts entstandenen Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen gegen das Beschleunigungsgebot und sind ausschließlich dem Gericht anzulasten.

Dies betrifft zum einen die Dauer der Erstellung der Urteilsgründe. Zwar hat das Landgericht das Urteil innerhalb der gesetzlich bestimmten Frist schriftlich abgesetzt. Bei dieser Frist handelt es sich aber um eine Höchstfrist, die, vor allem in Haftsachen, das Gericht nicht von der Verpflichtung entbindet, die Urteilsgründe unverzüglich, das heißt ohne vermeidbare justizseitige Verzögerungen, schriftlich niederzulegen. Soweit das Landgericht darauf verweist, dass die Urteils­er­stellung nicht stärker habe beschleunigt werden können, weil der berich­t­er­stattende Richter inzwischen an ein anderes Gericht abgeordnet, und der zweite berufs­rich­terliche Beisitzer zwischen­zeitlich einer stark belasteten Zivilkammer zugewiesen worden war, ist dies mit dem Beschleu­ni­gungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar. Ebenso wie sich aus dem Beschleu­ni­gungsgebot die Pflicht des Gerichts­prä­si­denten ableitet, durch Ergreifen geeigneter organi­sa­to­rischer Maßnahmen die beschleunigte Bearbeitung von Haftsachen sicher zu stellen, folgt daraus zugleich, solche gerichts­or­ga­ni­sa­to­rische Maßnahmen zu unterlassen, die einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen zuwiderlaufen. Des Weiteren ist nicht nachvollziehbar, dass bis zur Zustellung des Urteils an den Beschwer­de­führer weitere sechs Wochen vergangen sind.

Darüber hinaus hat das Oberlan­des­gericht maßgebliche Abwägungs­grundsätze unbeachtet gelassen. Es hat der Tatsache, dass sich der Beschwer­de­führer bereits über einen Zeitraum von mehr als zwei Dritteln der verhängten Strafe in Unter­su­chungshaft befindet und die Staats­an­walt­schaft ihm im Zuge einer Verfah­rens­ab­sprache zugesichert hat, bei tadellosem Verhalten im Strafvollzug zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt einen Antrag auf bedingte Entlassung zu stellen, keine Relevanz beigemessen. Vorliegend hätte aber gerade die Zusage der Staats­an­walt­schaft Anlass zu einer Prognose über die Straf­res­ter­wartung geboten.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 01/06 des BVerfG vom 03.01.2006

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