18.10.2024
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Dokument-Nr. 271

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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.02.2005

Erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Aufrecht­er­haltung von Unter­su­chungshaftEin Unter­su­chungs­ge­fangener befindet sich seit zweieinhalb Jahren in Unteru­schungshaft

Die Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) eines Unter­su­chungs­ge­fangenen, der sich seit zweieinhalb Jahren in Unter­su­chungshaft befindet, gegen die Aufrecht­er­haltung der Unter­su­chungshaft war erfolgreich. Die 2. Kammer stellte fest, dass die angefriffenen Entscheidungen des Oberlan­des­ge­richts (OLG) und des Landgerichts (LG) den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletzen. Die Sache wurde an das OLG zurück verwiesen. Dieses hat unter Beachtung der vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht angeführten Gesichtspunkte über die Frage der Unter­su­chungshaft erneut zu entscheiden.

Der Beschwer­de­führer (Bf) befindet sich seit dem 5. August 2002 in Unter­su­chungshaft. Mit Urteil vom 1. Dezember 2003 verurteilte ihn das LG unter anderem wegen ausbeuterischer Zuhälterei und Menschenhandels zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von drei Jahren und sechs Monaten. Neben dem Bf wurden fünf Mitangeklagte zu Freiheits­s­trafen verurteilt. Gegen das Urteil legten der Bf, die Staats­an­walt­schaft und zwei der Neben­klä­ge­rinnen Revision ein. Das LG stellte ihre Revisi­ons­be­grün­dungen teilweise erst nach eineinhalb bzw. zweieinhalb Monaten der jeweiligen Gegenpartei zu. Nach Übersendung der Akten durch die Staats­an­walt­schaft an den General­bun­des­anwalt leitete dieser die Akten vier Monate später mit einer Stellungnahme an den Bundes­ge­richtshof (BGH) weiter. Der BGH bestimmte drei Wochen später, am 22. Dezember 2004, Termin zur Haupt­ver­handlung über die Revisionen der zwei Neben­klä­ge­rinnen sowie der Staats­an­walt­schaft auf den 15. Juni 2005.

Mit Beschluss vom 7. Dezember 2004 wies das LG den Antrag des Bf auf Außer­voll­zug­setzung des Haftbefehls zurück. Das OLG verwarf seine hiergegen gerichtete Beschwerde. Die Vb hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Freiheits­grundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) gebietet in Haftsachen die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Das Beschleu­ni­gungsgebot gilt auch nach Erlass eines erstin­sta­nz­lichen Urteils und ist bei der Anordnung der Fortdauer von Unter­su­chungshaft zu beachten.

Das OLG hat in seiner Entscheidung nicht berücksichtigt, dass Umstände vorliegen, die den Schluss auf eine erhebliche, dem Staat zuzurechnende vermeidbare Verfah­rens­ver­zö­gerung nahe legen. Zu berücksichtigen ist hier zum einen die verzögerte Zustellung der Revisi­ons­be­grün­dungen. Hinzu tritt die unter Berück­sich­tigung der konkreten Bearbei­tungs­fristen für die Absetzung des Urteils, die Erstellung der Revisi­ons­be­grün­dungen und die Stellungnahme der Staats­an­walt­schaft sowie des revisi­ons­recht­lichen Prüfungsumfangs nicht nachvoll­ziehbare lange Bearbei­tungsdauer durch den General­bun­des­anwalt. Zu berücksichtigen ist schließlich die weiträumige Bestimmung des Termins zur Haupt­ver­handlung durch den BGH. Mit diesen, sich zumindest auf sieben Monate summierenden Verzögerungen des Rechts­mit­tel­ver­fahrens setzt sich das OLG nicht hinreichend auseinander. Es gibt an Stelle der gebotenen Einzel­fa­l­l­a­nalyse nur blankettartige Argumen­ta­ti­o­ns­muster ab.

Darüber hinaus hat das OLG maßgebliche Abwägungs­grundsätze nicht beachtet. Die verhängte Freiheitsstrafe kann nicht ohne weiteres als Maßstab für die mögliche Länge der Unter­su­chungshaft dienen. In erster Linie kommt es auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an. Diese kann etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, dem Staat zuzurechnenden vermeidbaren Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Unter­su­chungshaft herangezogen werden.

Auch die Erwägung des OLG, dass der Bf mit Wahrschein­lichkeit eine deutlich höhere Strafe zu erwarten habe, hält einer verfas­sungs­recht­lichen Überprüfung nicht stand. Ungeachtet der Frage, ob eine solche Prognose im Rechts­mit­tel­ver­fahren überhaupt angestellt werden kann, fehlt es auch hier an einer hinreichenden Begründung durch das OLG. Allein der Umstand, dass der BGH nur hinsichtlich der Revisionen der Staats­an­walt­schaft und der Neben­klä­ge­rinnen, nicht aber des Bf, Termin zur Haupt­ver­handlung bestimmt hat, rechtfertigt noch keine Aussage über die Erfolgs­aus­sichten der Revision.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 23/2005 des BVerfG vom 4. März 2005

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