15.11.2024
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Dokument-Nr. 1433

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Beschluss05.12.2005Bundesverfassungsgericht2 BvR 1964/05
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Bundesverfassungsgericht Beschluss05.12.2005

Anordnung der Haftentlassung nach 8-jähriger Unter­su­chungshaft

Die Verfas­sungs­be­schwerde eines Angeklagten, der sich seit über acht Jahren wegen des Verdachts des Herbeiführens einer Spreng­stof­f­ex­plosion mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch in Unter­su­chungshaft befindet, war erneut erfolgreich.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass die angegriffenen Entscheidungen des Oberlan­des­ge­richts und des Landgerichts den Beschwer­de­führer wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleu­ni­gungs­gebots in seinem Freiheits­grundrecht verletzen. Sie wurden zusammen mit dem zu Grunde liegenden Haftbefehl aufgehoben. Das Oberlan­des­gericht wurde angewiesen, den Beschwer­de­führer unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Sachverhalt:

Der Beschwer­de­führer befindet sich seit dem 2. August 1997 in Unter­su­chungshaft. Ihm liegt zur Last, im Juli 1997 vorsätzlich eine Gasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwer­de­führer gehörende Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner tötete und zwei weitere schwer verletzte. Nach einer Verfahrensdauer von über vier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001 wegen Herbeiführens einer Spreng­stof­f­ex­plosion mit Todesfolge tateinheitlich mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch zu lebenslanger Freiheitsstrafe.

Auf die Revision des Beschwer­de­führers hob der Bundes­ge­richtshof am 24. Juli 2003 die Entscheidung des Landgerichts wegen eines Verfah­rens­fehlers auf. Die Angaben der Zeugin H. vor dem Ermitt­lungs­richter hätten nicht im Urteil verwertet werden dürfen, weil der Beschwer­de­führer und sein damaliger Verteidiger entgegen den straf­pro­zes­sualen Bestimmungen nicht von dem Verneh­mungs­termin benachrichtigt worden seien. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Die neue Verhandlung gegen den Beschwer­de­führer hat am 6. Februar 2004 begonnen und dauert an. Der Antrag des Beschwer­de­führers, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, blieb vor dem Landgericht und Oberlan­des­gericht ohne Erfolg. Auf seine Verfas­sungs­be­schwerde hin hob das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts auf (siehe Beschluss v. 23.09.2005: BVerfG: Achtjährige Unter­su­chungshaft ist zu lang) und verwies die Sache zu erneuter Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurück. Am 8. November 2005 verwarf das Oberlan­des­gericht die Haftbeschwerde erneut. Die nochmalige Überprüfung der Verfahrensakten habe keine der Justiz anzulastenden vermeidbaren Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen ergeben. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Das Oberlan­des­gericht hat unter Missachtung der Bindungswirkung der voraus­ge­gangenen Kamme­rent­scheidung vom 23. September 2005 erneut nicht berücksichtigt, dass durch die Aufhebung des erstin­sta­nz­lichen Urteils und die Zurück­ver­weisung der Sache eine dem Staat zuzurechnende Verfah­rens­ver­zö­gerung schon deshalb vorliegt, weil das ergangene Urteil verfah­rens­feh­lerhaft war.

Dem kann, anders als das Oberlan­des­gericht meint, nicht mit Erfolg entge­gen­ge­halten werden, dass die Verfah­rens­ver­län­gerung aufgrund der Aufhebung des ersten Urteils im Revisi­ons­ver­fahren Ausprägung einer rechts­s­taat­lichen Ausgestaltung des Rechts­mit­tel­systems sei und deshalb einen Verstoß gegen das Beschleu­ni­gungsgebot in Haftsachen nicht begründen könne. Zwar ist es verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, die infolge der Durchführung eines Revisi­ons­ver­fahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Hiervon ist aber dann eine Ausnahme zu machen, wenn das Revisi­ons­ver­fahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfah­rens­fehlers gedient hat. Entgegen der Auffassung des Oberlan­des­ge­richts kommt es nicht darauf an, ob es sich um einen „eklatanten“ Verfah­rens­fehler handelt. Maßgebend ist allein, in wessen Sphäre der Verfah­rens­fehler wurzelt, in der des Beschwer­de­führers oder in der der Justiz. Da vorliegend nur die Justiz von der bevorstehenden ermitt­lungs­rich­ter­lichen Vernehmung der Zeugin H. Kenntnis hatte, konnte auch nur die Justiz der Benach­rich­ti­gungs­pflicht genügen. Der aus dem Unterlassen dieser Verpflichtung und der aus der späteren Verwertung der Aussage des Ermitt­lungs­richters resultierende Verfah­rens­fehler ist daher allein der Justiz anzulasten.

Angesichts der dadurch bedingten Verfah­rens­ver­län­gerung von nahezu 25 Monaten (von der Einlegung der Revision gegen das erstin­sta­nzliche Urteil vom 16. August 2001 bis zur Rückkehr der Akte zur Staats­an­walt­schaft nach Abschluss des Revisi­ons­ver­fahrens am 4. September 2003 gerechnet) kann auch von einer lediglich kleinen Verzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftaten eine Fortdauer der Unter­su­chungshaft noch rechtfertigen könnte, keine Rede mehr sein. Damit ist allein schon aus diesem Grunde eine Verletzung des Beschleu­ni­gungs­gebots in Haftsachen gegeben, die zwingend zur Aufhebung des Haftbefehls wegen Unver­hält­nis­mä­ßigkeit führen muss.

Dessen ungeachtet weist das Verfahren eine Vielzahl weiterer gravierender Verletzungen des Beschleu­ni­gungs­gebots in Haftsachen auf, die jede für sich, aber erst recht in ihrer Gesamtheit zur Aufhebung der Unter­su­chungshaft zwingen.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 121/05 des BVerfG vom 08.12.2005

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