Dokument-Nr. 1433
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Bundesverfassungsgericht Beschluss05.12.2005
Anordnung der Haftentlassung nach 8-jähriger Untersuchungshaft
Die Verfassungsbeschwerde eines Angeklagten, der sich seit über acht Jahren wegen des Verdachts des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch in Untersuchungshaft befindet, war erneut erfolgreich.
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Landgerichts den Beschwerdeführer wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots in seinem Freiheitsgrundrecht verletzen. Sie wurden zusammen mit dem zu Grunde liegenden Haftbefehl aufgehoben. Das Oberlandesgericht wurde angewiesen, den Beschwerdeführer unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 2. August 1997 in Untersuchungshaft. Ihm liegt zur Last, im Juli 1997 vorsätzlich eine Gasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwerdeführer gehörende Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner tötete und zwei weitere schwer verletzte. Nach einer Verfahrensdauer von über vier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001 wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge tateinheitlich mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch zu lebenslanger Freiheitsstrafe.
Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der Bundesgerichtshof am 24. Juli 2003 die Entscheidung des Landgerichts wegen eines Verfahrensfehlers auf. Die Angaben der Zeugin H. vor dem Ermittlungsrichter hätten nicht im Urteil verwertet werden dürfen, weil der Beschwerdeführer und sein damaliger Verteidiger entgegen den strafprozessualen Bestimmungen nicht von dem Vernehmungstermin benachrichtigt worden seien. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Die neue Verhandlung gegen den Beschwerdeführer hat am 6. Februar 2004 begonnen und dauert an. Der Antrag des Beschwerdeführers, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, blieb vor dem Landgericht und Oberlandesgericht ohne Erfolg. Auf seine Verfassungsbeschwerde hin hob das Bundesverfassungsgerichts die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf (siehe Beschluss v. 23.09.2005: BVerfG: Achtjährige Untersuchungshaft ist zu lang) und verwies die Sache zu erneuter Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück. Am 8. November 2005 verwarf das Oberlandesgericht die Haftbeschwerde erneut. Die nochmalige Überprüfung der Verfahrensakten habe keine der Justiz anzulastenden vermeidbaren Verfahrensverzögerungen ergeben. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Das Oberlandesgericht hat unter Missachtung der Bindungswirkung der vorausgegangenen Kammerentscheidung vom 23. September 2005 erneut nicht berücksichtigt, dass durch die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und die Zurückverweisung der Sache eine dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerung schon deshalb vorliegt, weil das ergangene Urteil verfahrensfehlerhaft war.
Dem kann, anders als das Oberlandesgericht meint, nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass die Verfahrensverlängerung aufgrund der Aufhebung des ersten Urteils im Revisionsverfahren Ausprägung einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems sei und deshalb einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht begründen könne. Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Hiervon ist aber dann eine Ausnahme zu machen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts kommt es nicht darauf an, ob es sich um einen „eklatanten“ Verfahrensfehler handelt. Maßgebend ist allein, in wessen Sphäre der Verfahrensfehler wurzelt, in der des Beschwerdeführers oder in der der Justiz. Da vorliegend nur die Justiz von der bevorstehenden ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeugin H. Kenntnis hatte, konnte auch nur die Justiz der Benachrichtigungspflicht genügen. Der aus dem Unterlassen dieser Verpflichtung und der aus der späteren Verwertung der Aussage des Ermittlungsrichters resultierende Verfahrensfehler ist daher allein der Justiz anzulasten.
Angesichts der dadurch bedingten Verfahrensverlängerung von nahezu 25 Monaten (von der Einlegung der Revision gegen das erstinstanzliche Urteil vom 16. August 2001 bis zur Rückkehr der Akte zur Staatsanwaltschaft nach Abschluss des Revisionsverfahrens am 4. September 2003 gerechnet) kann auch von einer lediglich kleinen Verzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftaten eine Fortdauer der Untersuchungshaft noch rechtfertigen könnte, keine Rede mehr sein. Damit ist allein schon aus diesem Grunde eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen gegeben, die zwingend zur Aufhebung des Haftbefehls wegen Unverhältnismäßigkeit führen muss.
Dessen ungeachtet weist das Verfahren eine Vielzahl weiterer gravierender Verletzungen des Beschleunigungsgebots in Haftsachen auf, die jede für sich, aber erst recht in ihrer Gesamtheit zur Aufhebung der Untersuchungshaft zwingen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 09.12.2005
Quelle: Pressemitteilung Nr. 121/05 des BVerfG vom 08.12.2005
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