Dokument-Nr. 362
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Bundesverfassungsgericht Beschluss29.03.2005
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Häftlings gegen gerichtliche UntätigkeitGerichte müssen über Anträge von Strafgefangenen innerhalb einer angemessenen Zeit entscheiden
Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Strafgefangenen gegen die Untätigkeit des Landgerichts (LG) Hamburg in einer ihn betreffenden Vollzugssache war erfolgreich. Die 1. Kammer des Zweiten Senats stellte fest, dass die Untätigkeit des LG den Beschwerdeführer (Bf) in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt.
Der Beschwerdeführer hatte bei der Justizvollzugsanstalt erfolglos die Gewährung eines so genannten Schülerstatus zur Aufnahme eines Fernstudiums an der Universität Hagen beantragt. Im Juli 2000 stellte er in dieser Angelegenheit beim LG Hamburg Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Nachdem das LG diesen Antrag abgelehnt und der Bf hiergegen Rechtsbeschwerde eingelegt hatte, hob das Oberlandesgericht (OLG) mit Beschluss vom 11. September 2001 die Entscheidung des LG auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurück. Im Oktober 2001 vermerkte die damals zuständige Richterin beim LG, sie sehe sich wegen starker Belastung nicht in der Lage, in der Sache eine Entscheidung zu treffen. In der Folgezeit wechselte, wie dem Bf auf Sachstandsanfrage mitgeteilt wurde, mehrfach die Besetzung der betreffenden Richterstelle. Am 6. September 2002 legte der Bf beim LG Untätigkeitsbeschwerde ein. Das LG leitete diese Beschwerde, ebenso wie eine nachfolgende Sachstandsanfrage, nicht an das OLG weiter. Nachdem der Bf eine erneute Sachstandsanfrage direkt dem OLG zukommen ließ, forderte dieses die Akten vom LG an. Erst auf die dritte Anforderung des OLG übersandte das LG die Verfahrensakten. Mit Beschluss vom 2. Januar 2003 stellte das OLG die Rechtswidrigkeit der Untätigkeit des LG fest. Ungeachtet dessen traf das LG bisher keine Entscheidung in der Sache.
Mit seiner Vb rügt der Bf die Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Darüber hinaus beanstandet er, dass es keinen wirksamen Rechtsschutz gegen eine derartige richterliche Untätigkeit durch ein Fachgericht gebe. Er fordere deshalb, dass es von Verfassungs wegen ermöglicht wird, das übergeordnete Fachgericht mit Entscheidungsmacht auszustatten, gegen ein willkürlich untätiges Untergericht vorgehen und selbst entscheiden zu können. Auf Anfrage des Bundesverfassungsgerichts beim LG, ob mittlerweile eine Entscheidung ergangen sei, und zweimaliger schriftlicher Aktenanforderung erfolgte keine Reaktion. Erst nach mehrmaliger direkter telefonischer Aufforderung des zuständigen Richters beim LG wurden die Verfahrensakten dem Bundesverfassungsgericht zugeleitet.
Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg erklärte, von einer Stellungnahme abzusehen, wies aber darauf hin, dass der Bf allein im Jahr seines streitgegenständlichen Antrags insgesamt 54 Vollzugsverfahren beim LG Hamburg anhängig gemacht habe.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das Grundgesetz (Art. 19 Abs. 4 GG) gewährleistet wirksamen Rechtsschutz. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass auf den Beschluss des OLG vom 2. Januar 2003 hin nicht alsbald eine Entscheidung getroffen wurde, liegen nicht vor. Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegen, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen. Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles - unter anderem von der Bedeutung der Sache, den Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, der Schwierigkeit des Falles und dem Verhalten der Beteiligten - ab. Dem Richter steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen er aufgrund eigener Gewichtung solcher Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann. Inwieweit dabei auch der Umstand, dass ein Kläger die Justiz durch eine Vielzahl von Anträgen in besonderem Maße beansprucht, Zurücksetzungen rechtfertigt, ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Jedenfalls besteht ein diesbezüglicher Gestaltungsspielraum des Richters nicht mehr, wenn ein übergeordnetes Gericht festgestellt hat, dass bereits die bisherige Untätigkeit in dem betreffenden Verfahren rechtswidrig war.
Soweit sich die Vb dagegen wendet, dass auch im Falle festgestellter rechtswidriger Untätigkeit eines Gerichts das übergeordnete Gericht nicht die Möglichkeit hat, die festgestellte Rechtsverletzung zu beenden, indem es die Entscheidung an sich zieht, ist sie unbegründet. Der Bf wendet sich hier der Sache nach gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers. Durch die beharrliche Untätigkeit des LG im vorliegenden Fall wird nicht belegt, dass bereits die gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG entsprechen. Verletzt ein Gericht durch Untätigkeit seine Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes, so bestehen neben der in vielen Fällen eröffneten Möglichkeit der Untätigkeitsbeschwerde weitere Möglichkeiten, auf ein pflichtgemäßes Verhalten der Justiz hinzuwirken.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 08.04.2005
Quelle: Pressemitteilung Nr. 30/05 des BVerfG vom 07.04.2005
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