21.11.2024
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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss16.06.2011

VGH Baden-Württemberg: "Gehsteig­be­ratung" für Schwangere weiterhin vorläufig verbotenGezielte Ansprache auf Schwan­ger­schafts­kon­flikt­si­tuation durch unbekannte Dritte verletzt voraussichtlich Persön­lich­keitsrecht der betroffenen Frauen

Die gezielte Ansprache von Frauen auf Schwangerschaft oder Abtreibung in der Nähe einer Schwan­ger­schafts­kon­flikt­be­ra­tungs­stelle (so genannte "Gehsteig­be­ratung") verletzt voraussichtlich das Persön­lich­keitsrecht der angesprochenen Frauen. Dies entschied der Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg.

Im zugrunde liegenden Fall hat die Stadt Freiburg einem privaten, gemeinnützigen Verein unter Androhung eines Zwangsgeldes von 250 Euro untersagt, in der Humboldtstraße - an der eine Schwan­ger­schafts­kon­flikt­be­ra­tungs­stelle liegt - Personen auf eine Schwan­ger­schafts­kon­flikt­si­tuation anzusprechen oder ihnen unaufgefordert Broschüren, Bilder oder Gegenstände zu diesem Thema zu zeigen oder zu überreichen. Der Verein (Antragsteller) hat gegen die für sofort vollziehbare Unter­sa­gungs­ver­fügung Widerspruch eingelegt und beim Verwal­tungs­gericht Freiburg die Wieder­her­stellung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Das Verwal­tungs­gericht hat den Antrag abgelehnt. Die Beschwerde beim Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg blieb ebenfalls ohne Erfolg.

Frauen in Konflikt­si­tuation haben Recht darauf, von fremden Personen in Ruhe gelassen zu werden

Die gezielte Ansprache auf eine Schwan­ger­schafts­kon­flikt­si­tuation durch unbekannte Dritte auf der Straße verletze voraussichtlich das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen, heißt es in den Gründen des Beschlusses. In der Frühphase der Schwangerschaft befänden sich die meisten Frauen in einer besonderen seelischen Lage, in der es in Einzelfällen zu schweren Konflikt­si­tua­tionen komme. Diesen Schwan­ger­schafts­konflikt erlebe die Frau als höchst­per­sön­lichen Konflikt. Sie habe daher ein Recht darauf, von fremden Personen, die sie auf der Straße darauf ansprächen, in Ruhe gelassen zu werden. Dies missachteten die für den Antragsteller tätigen Personen, wenn sie den Frauen - zumeist sogar zu zweit - mit Sätzen wie „Bitte, Mama, lass Dein Kind leben“ gegenüberträten.

Individuelle Rechts­ver­folgung für Frauen in Schwan­ger­schafts­kon­flikt­si­tuation nicht zumutbar

Das Einschreiten der Stadt sei auch im öffentlichen Interesse geboten, da eine unbestimmte Vielzahl schwangerer Frauen von der mit der „Gehsteig­be­ratung“ einhergehenden Beein­träch­tigung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts betroffen sei, so der Verwal­tungs­ge­richtshof weiter. Die angesprochenen Frauen könnten zwar Unter­las­sungs­ansprüche bei den ordentlichen Gerichten geltend machen. Eine wirkungsvolle Abwehr der Beein­träch­ti­gungen sei so aber nicht zu erreichen. Zudem sei den Frauen in einer Schwan­ger­schafts­kon­flikt­si­tuation eine individuelle Rechts­ver­folgung nicht zumutbar, weil ihnen dies einen Verzicht auf die gesetzlich gewährleistete Anonymität abverlangen würde.

Meinungs­freiheit durch Verbot der Gehsteig­be­ratung nicht unver­hält­nismäßig beschränkt

Der Meinungs­freiheit des Antragstellers sei auch nicht der Vorrang vor dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht der betroffenen Frauen einzuräumen. Denn auch bei einem Thema von besonderem öffentlichen Interesse wie dem eines Schwan­ger­schafts­ab­bruchs schütze das Recht auf Meinungs­freiheit keine Tätigkeiten, mit denen anderen eine bestimmte Meinung aufgedrängt werden solle. Die für den Antragsteller tätigen Personen übergäben den schwangeren Frauen ein Faltblatt, das von außen den Eindruck erwecke, es handle sich ausschließlich um ein beratendes Hilfsangebot. Beim Aufschlagen würden sie aber ohne Vorwarnung mit Bildern von Föten, Teilen von Föten, von Ungeborenen oder Teilen von Ungeborenen konfrontiert, die darauf angelegt seien, ihnen eine bestimmte Meinung aufzuzwingen. Die Meinungs­freiheit des Antragstellers und seiner Mitglieder werde durch das Verbot der Gehsteig­be­ratung ferner nicht unver­hält­nismäßig beschränkt. Denn außerhalb der Humboldtstraße bleibe die Gehsteig­be­ratung möglich. Eine allgemeine Kritik an der Möglichkeit der Abtreibung könnte darüber hinaus - ohne eine gezielte Ansprache der schwangeren Frauen - auch in der Humboldtstraße geäußert werden. Die Glaubens­freiheit gewähre dem Antragsteller keine weitergehenden Rechte.

Gehsteig­be­ratung mit komplexen Verfahren der Schwan­ger­schafts­be­ratung nicht zu vereinbaren

Die Untersagung der Gehsteig­be­ratung stehe schließlich in Einklang mit der Schutzpflicht des Staates für das ungeborene menschliche Leben. Der Gesetzgeber habe im Zusammenhang mit der Reform der Strafbarkeit des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs im Schwan­ger­schafts­kon­flikt­gesetz ein Konzept etabliert, dass in einem Schwan­ger­schafts­konflikt in der Frühphase der Schwangerschaft den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau lege, um sie für das Austragen des Kindes zu gewinnen. Diese Beratung solle von dem Bemühen getragen sein, die Frau zur Fortsetzung ihrer Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen. Mit diesem komplexen Verfahren sei die Gehsteig­be­ratung des Antragstellers nicht zu vereinbaren.

Quelle: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg/ra-online

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