18.10.2024
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Sozialgericht Berlin Beschluss25.04.2012

Hartz IV verfas­sungs­widrig – Regelsatz um 36 Euro zu niedrigLeistungen des SGB II verstoßen gegen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums

Nach Auffassung des Sozialgerichts Berlin verstoßen die Leistungen des SGB II gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums. Das Gericht hat daher dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage der Verfas­sungs­wid­rigkeit des SGB-II-Regelbedarfs zur Prüfung vorgelegt. Zwar seien die Leistungen nicht evident unzureichend. Der Gesetzgeber habe bei der Festlegung des Regelsatzes jedoch seinen Gestal­tungs­spielraum verletzt. Die Referenzgruppe (untere 15 % der Alleinstehenden), anhand deren Verbrauchs die Bedarfe für Erwachsene ermittelt worden sind, sei fehlerhaft bestimmt worden.

Nach Auffassung des Sozialgerichts Berlin seien die im Anschluss an die statistische Bedarfs­er­mittlung vorgenommenen Kürzungen einzelner Positionen (Ausgaben für Verkehr, alkoholische Getränke, Mahlzeiten in Gaststätten und Kantinen, Schnittblumen usw) ungerecht­fertigt. Insbesondere habe der Gesetzgeber dabei den Aspekt der Teilhabe am gesell­schaft­lichen Leben unzureichend gewürdigt. Im Ergebnis seien die Leistungen für einen Alleinstehenden um monatlich rund 36 Euro und für eine dreiköpfige Familie (Eltern und 16-jähriger Sohn) um monatlich rund 100 Euro zu niedrig bemessen.

Sachverhalt

Die Kläger, eine gewerk­schaftlich vertretene dreiköpfige Familie aus Neukölln, erhoben am 13. Juli 2011 Klage gegen das Jobcenter Berlin Neukölln wegen der Höhe der ab Januar 2011 bewilligten Leistungen. Für den letzten umstrittenen Zeitraum Januar bis Juli 2012 waren ihnen nach Anrechnung von Einkünften aus Erwer­bs­min­de­rungsrente, Kindergeld und Erwer­b­s­ein­kommen Leistungen von insgesamt 439,10 Euro bewilligt worden. Das Jobcenter hatte der Leistungs­be­rechnung den gesetzlichen Regelbedarf von 2 x 337 Euro für die Eltern und 287 Euro für den 16-jährigen Sohn zuzüglich Kosten für Unterkunft und Heizung zugrunde gelegt. Die Kläger trugen vor, dass sie mit dem bewilligten ALG II ihre Ausgaben nicht decken könnten. Trotz größter Sparsamkeit müssten sie regelmäßig ihren Dispokredit und Privatdarlehen in Anspruch nehmen.

Sozialgericht legt Frage der Verfas­sungs­mä­ßigkeit des aktuellen Regelsatzes dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vor

Das Sozialgericht Berlin in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richterinnen kam nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu der Überzeugung, dass die Kläger zwar nach den ab 2011 gültigen SGB II-Vorschriften keine höheren Leistungen beanspruchen könnten. Diese Vorschriften seien jedoch mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die Richter haben das Verfahren daher ausgesetzt und die Frage der Verfas­sungs­mä­ßigkeit des aktuellen Regelsatzes dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht zur Entscheidung vorgelegt.

Gesetz­ge­bungs­ver­fahren muss transparent und sachlich nachvollziehbar sein

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht habe dem Gesetzgeber in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 einen Gestal­tungs­spielraum zur Bestimmung des Existenz­mi­nimums eingeräumt. Das Gesetz­ge­bungs­ver­fahren müsse jedoch transparent erfolgen und methodisch und sachlich nachvollziehbar sein. Insoweit zulässig habe der Gesetzgeber zur Bemessung des Existenz­mi­nimums ein Statistikmodell verwandt, das auf einer Auswertung der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe 2008 (EVS 2008) beruhe.

Auswahl der Referenzgruppe massiv fehlerhaft

Bereits die Auswahl der unteren 15 % der Alleinstehenden als Referenzgruppe sei jedoch mit massiven Fehlern behaftet. Sie sei ohne nachvoll­ziehbare Wertung und damit willkürlich erfolgt. Es sei nicht begründet worden, wie aus dem Ausga­be­ver­halten dieser Gruppe auf eine Bedarfsdeckung der Leistungs­be­rech­tigten geschlossen werden könne. Die Referenzgruppe enthalte unter anderem auch Haushalte von Erwerbstätigen mit „aufstockendem“ Bezug von existenz­si­chernden Leistungen sowie Studenten im BAföG-Bezug und Fälle „versteckter Armut“. Es stelle einen unzulässigen Zirkelschluss dar, deren Ausgaben zur Grundlage der Berechnung existenz­si­chernder Leistungen zu machen. Darüber hinaus lasse das Ausga­be­ver­halten Alleinstehender keinen Schluss auf die besondere Bedarfslage von Familien zu. Nicht hinreichend statistisch belegt sei zudem, dass es mit den ermittelten Beträgen noch möglich sei, auf langlebige Gebrauchsgüter (Kühlschrank/Waschmaschine) anzusparen.

Ausschluss bestimmter Güter und Dienst­leis­tungen nicht nachvollziehbar begründet

Auch der wertende Ausschluss bestimmter Güter und Dienst­leis­tungen aus dem Ausgabekatalog der EVS 2008 sei jedenfalls hinsichtlich der Positionen Verkehr, Mahlzeiten in Restaurants/Cafés und Kantinen, Ausgaben für alkoholische Getränke, Schnittblumen und chemische Reinigung nicht nachvollziehbar begründet. Der Gesetzgeber verkenne insbesondere, dass das Existenzminimum auch die Pflege zwischen­mensch­licher Beziehungen zu ermöglichen habe. Im Übrigen sei bei einem derart „auf Kante genähten“ Regelbedarf das Statistikmodell seiner Legitimation beraubt. Das Statistikmodell und die Gewährung pauschaler Leistungen beruhten gerade darauf, dass der Gesamtbetrag der Leistung es erlaube, einen überdurch­schnitt­lichen Bedarf in einer Position durch einen unter­durch­schnitt­lichen Bedarf in einer anderen Position auszugleichen. Dieser interne Ausgleich sei durch die umfangreichen Streichungen nicht mehr ausreichend möglich.

Vorschriften zur Höhe des Regelsatzes verfas­sungs­widrig

Angesichts des Ausmaßes der aufgezeigten Fehler seien die Vorschriften zur Höhe des Regelsatzes (§§ 19, 20, 28 SGB II) verfassungswidrig. Für alleinstehende Personen müsse ab 2012 ein monatlicher Fehlbetrag von 36,07 Euro, für die klägerische Bedarfs­ge­mein­schaft von ca. 100 Euro angenommen werden.

Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online

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