23.11.2024
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Urteil09.02.2010Bundesverfassungsgericht1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 125, 175Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 125, Seite: 175
  • DÖV 2010, 324Zeitschrift: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), Jahrgang: 2010, Seite: 324
  • DVBl 2010, 314Zeitschrift: Das Deutsche Verwaltungsblatt (DVBl), Jahrgang: 2010, Seite: 314
  • FamRZ 2010, 429Zeitschrift für das gesamte Familienrecht mit Betreuungsrecht (FamRZ), Jahrgang: 2010, Seite: 429
  • JuS 2010, 844 (Franz Ruland)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2010, Seite: 844, Entscheidungsbesprechung von Franz Ruland
  • NJW 2010, 505Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2010, Seite: 505
  • NZS 2010, 270Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS), Jahrgang: 2010, Seite: 270
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil09.02.2010

BVerfG: Hartz IV-Regelsätze sind verfas­sungs­widrigHartz-IV-Regelsätze für Erwachsene und Kinder müssen neu berechnet werden

Die Hartz IV-Regelsätze sind verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht. Der Gesetzgeber muss die Vorschriften bis Ende 2010 neu fassen. Bis dahin bleiben die jetzigen Regelsätze weiterhin in Kraft.

Die derzeitigen Berechnungen für die Regelsätze sind nach Ansicht des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts nicht transparent genug. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht forderte den Gesetzgeber auf, bis zum 31. Dezember 2010 eine an der Realität orientierte Neuregelung zu schaffen. Ob Bezieher von Arbeits­lo­sengeld II danach mehr Geld bekommen müssen, ließ das Gericht aber offen. Ab dem 1. Januar 2011 muss eine Neuregelung gelten.

I. Sachverhalt

1. Das Vierte Gesetz für moderne Dienst­leis­tungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (sog. „Hartz IV-Gesetz“) führte mit Wirkung vom 1. Januar 2005 die bisherige Arbeits­lo­senhilfe und die bisherige Sozialhilfe im neu geschaffenen Sozial­ge­setzbuch Zweites Buch (SGB II) in Form einer einheitlichen, bedürf­tig­keits­ab­hängigen Grundsicherung für Erwerbsfähige und die mit ihnen in einer Bedarfs­ge­mein­schaft lebenden Personen zusammen. Danach erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Arbeits­lo­sengeld II und die mit ihnen in einer Bedarfs­ge­mein­schaft lebenden, nicht erwerbsfähigen Angehörigen, insbesondere Kinder vor Vollendung des 15. Lebensjahres, Sozialgeld. Diese Leistungen setzen sich im Wesentlichen aus der in den §§ 20 und 28 SGB II bestimmten Regelleistung zur Sicherung des Lebens­un­terhalts und Leistungen für Unterkunft und Heizung zusammen. Sie werden nur gewährt, wenn ausreichende eigene Mittel, insbesondere Einkommen oder Vermögen, nicht vorhanden sind. Die Regelleistung für Alleinstehende legte das SGB II zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens für die alten Länder einschließlich Berlin (Ost) auf 345 Euro fest. Die Regelleistung für die übrigen Mitglieder der Bedarfs­ge­mein­schaft bestimmt es als prozentuale Anteile davon. Danach ergaben sich zum 1. Januar 2005 für Ehegatten, Lebenspartner und Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft ein Betrag von gerundet 311 Euro (90 %), für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres ein Betrag von 207 Euro (60 %) und für Kinder ab Beginn des 15. Lebensjahres ein Betrag von 276 Euro (80 %).

Pauschalierte Regelleistungen

Im Vergleich zu den Regelungen nach dem früheren Bundes­so­zi­a­l­hil­fe­gesetz (BSHG) wird die Regelleistung nach dem SGB II weitgehend pauschaliert; eine Erhöhung für den Alltagsbedarf ist ausgeschlossen. Einmalige Beihilfen werden nur noch in Ausnahmefällen für einen besonderen Bedarf gewährt. Zur Deckung unregelmäßig wiederkehrenden Bedarfs ist die Regelleistung erhöht worden, damit Leistungs­emp­fänger entsprechende Mittel ansparen können.

2. a) Bei der Festsetzung der Regelleistung hat sich der Gesetzgeber an das Sozia­l­hil­ferecht, das seit dem 1. Januar 2005 im Sozial­ge­setzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) geregelt wird, angelehnt. Nach dem SGB XII und der vom zuständigen Bundes­mi­nis­terium erlassenen Regel­satz­ver­ordnung erfolgt die Bemessung der sozia­l­hil­fe­recht­lichen Regelsätze nach einem Statistikmodell, das bereits in ähnlicher Form unter der Geltung des Bundes­so­zi­a­l­hil­fe­ge­setzes (BSHG) entwickelt worden war. Grundlage für die Bemessung der Regelsätze ist eine Sonder­aus­wertung der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe, die vom Statistischen Bundesamt alle fünf Jahre erhoben wird. Für die Bestimmung des Eckregelsatzes, der auch für Alleinstehende gilt, sind die in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe erfassten Ausgaben der untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einper­so­nen­haushalte (unterstes Quintil) nach Herausnahme der Empfänger von Sozialhilfe maßgeblich. Diese Ausgaben gehen allerdings nicht vollständig, sondern als regel­satz­re­le­vanter Verbrauch nur zu bestimmten Prozentanteilen in die Bemessung des Eckregelsatzes ein.

Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe aus dem Jahre 1998 bildet Grundlage für die Regel­satz­ver­ordnung

Die seit dem 1. Januar 2005 geltende Regel­satz­ver­ordnung fußt auf der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe aus dem Jahre 1998. Bei der Bestimmung des regel­satz­re­le­vanten Verbrauchs in § 2 Abs. 2 Regel­satz­ver­ordnung wurde die Abteilung 10 der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe (Bildungswesen) nicht berücksichtigt. Weiterhin erfolgten Abschläge unter anderem in der Abteilung 03 (Bekleidung und Schuhe) zum Beispiel für Pelze und Maßkleidung, in der Abteilung 04 (Wohnung etc.) bei der Ausga­ben­po­sition „Strom“, in der Abteilung 07 (Verkehr) wegen der Kosten für Kraftfahrzeuge und in der Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur) zum Beispiel für Segelflugzeuge. Der für das Jahr 1998 errechnete Betrag wurde nach den Regelungen, die für die jährliche Anpassung der Regelleistung nach dem SGB II und der Regelsätze nach dem SGB XII gelten, entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwertes in der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung (vgl. § 68 SGB VI) auf den 1. Januar 2005 hochgerechnet.

b) Bei der Festsetzung der Regelleistung für Kinder wich der Gesetzgeber von den Prozentsätzen, die unter dem BSHG galten, ab und bildete nunmehr nur noch zwei Altersgruppen ( bis 14 Jahre und 14 bis 18 Jahre). Eine Untersuchung des Ausga­be­ver­haltens von Ehepaaren mit einem Kind, wie sie unter dem BSHG erfolgt war, unterblieb zunächst.

2007 wurden Änderungen beim regel­satz­re­le­vanten Verbrauch vorgenommen

3. Die Sonder­aus­wertung der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe aus dem Jahre 2003 führte zwar zum 1. Januar 2007 zu Änderungen beim regel­satz­re­le­vanten Verbrauch gemäß § 2 Abs. 2 Regel­satz­ver­ordnung, jedoch nicht zu einer Erhöhung des Eckregelsatzes und der Regelleistung für Alleinstehende. Eine erneute Sonder­aus­wertung bezogen auf das Ausga­be­ver­halten von Ehepaaren mit einem Kind veranlasste den Gesetzgeber zur Einführung einer dritten Alterstufe von haushalts­an­ge­hörigen Kindern im Alter von 6 Jahren bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Diese erhalten ab dem 1. Juli 2009 nach § 74 SGB II 70 % der Regelleistung eines Alleinstehenden. Seit dem 1. August 2009 erhalten schulpflichtige Kinder nach Maßgabe von § 24 a SGB II zudem zusätzliche Leistungen für die Schule in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr.

4. Über eine Vorlage des Hessischen Landes­so­zi­al­ge­richts (1 BvL 1/09) und über zwei Vorlagen des Bundes­so­zi­al­ge­richts (1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09) zu der Frage, ob die Höhe der Regelleistung zur Sicherung des Lebens­un­terhalts für Erwachsene und Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2005 nach § 20 Abs. 1 bis 3 und nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Alt. 1 SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar ist, hat der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts am 20. Oktober 2009 verhandelt.

II. Die Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat entschieden, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen. Die Vorschriften bleiben bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiter anwendbar. Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung auch einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II Leistungs­be­rech­tigten vorzusehen, der bisher nicht von den Leistungen nach §§ 20 ff. SGB II erfasst wird, zur Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums jedoch zwingend zu decken ist. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber wird angeordnet, dass dieser Anspruch nach Maßgabe der Urteilsgründe unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kann.

Recht auf menschen­würdiges Existenzminimum

1. a) Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozial­staats­prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfe­be­dürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesell­schaft­lichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewähr­leis­tungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwick­lungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebens­be­din­gungen auszurichten hat. Der Umfang des verfas­sungs­recht­lichen Leistungs­an­spruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Die Konkretisierung obliegt dem Gesetzgeber, dem hierbei ein Gestal­tungs­spielraum zukommt.

Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenz­not­wendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also reali­täts­gerecht, zu bemessen.

Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenz­mi­nimums

b) Dem Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenz­mi­nimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle der einfach­ge­setz­lichen Regelung durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaubt, beschränkt sich bezogen auf das Ergebnis die materielle Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind. Innerhalb der materiellen Bandbreite, welche diese Evidenz­kon­trolle belässt, kann das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums keine quanti­fi­zierbaren Vorgaben liefern. Es erfordert aber eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungs­be­messung daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden. Um eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvoll­zieh­barkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, müssen die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berech­nungs­ver­fahren tragfähig zu rechtfertigen sein.

Prüfungsumfang des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht prüft deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschen­würdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines Gestal­tungs­spielraums ein zur Bemessung des Existenz­mi­nimums im Grundsatz taugliches Berech­nungs­ver­fahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berech­nungs­schritten mit einem nachvoll­ziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Struk­tur­prin­zipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat. Zur Ermöglichung dieser verfas­sungs­ge­richt­lichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenz­mi­nimums im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren eingesetzten Methoden und Berech­nungs­schritte nachvollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenz­mi­nimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.

Regelleistungen sind nicht "evident unzureichend"

2. Die in den Ausgangs­ver­fahren geltenden Regelleistungen von 345, 311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums nicht als evident unzureichend angesehen werden. Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil sie zur Sicherung der physischen Seite des Existenz­mi­nimums zumindest ausreicht und der Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenz­mi­nimums besonders weit ist.

Dies gilt auch für den Betrag von 311 Euro für erwachsene Partner einer Bedarfs­ge­mein­schaft. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass durch das gemeinsame Wirtschaften Aufwendungen gespart werden und deshalb zwei zusammenlebende Partner einen finanziellen Mindestbedarf haben, der geringer als das Doppelte des Bedarfs eines Alleinlebenden ist.

Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums offensichtlich unzureichend ist. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass dieser Betrag nicht ausreicht, um das physische Existenzminimum, insbesondere den Ernäh­rungs­bedarf von Kindern im Alter von 7 bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zu decken.

Statistikmodell ist als Bemes­sungs­grundlage zulässig

3. Das Statistikmodell, das für die Bemessung der sozia­l­hil­fe­recht­lichen Regelsätze gilt und nach dem Willen des Gesetzgebers auch die Grundlage für die Bestimmung der Regelleistung bildet, ist eine verfas­sungs­rechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenz­mi­nimums für eine alleinstehende Person. Es stützt sich auch auf geeignete empirische Daten. Die Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe bildet in statistisch zuverlässiger Weise das Verbrauchs­ver­halten der Bevölkerung ab. Die Auswahl der untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einper­so­nen­haushalte nach Herausnahme der Empfänger von Sozialhilfe als Referenzgruppe für die Ermittlung der Regelleistung für einen Alleinstehenden ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber konnte auch vertretbar davon ausgehen, dass die bei der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe 1998 zugrunde gelegte Referenzgruppe statistisch zuverlässig über der Sozia­l­hil­fe­schwelle lag.

Es ist verfas­sungs­rechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden, dass die in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe erfassten Ausgaben des untersten Quintils nicht vollständig, sondern als regel­leis­tungs­re­le­vanter Verbrauch nur zu einem bestimmten Prozentsatz in die Bemessung der Regelleistung einfließen. Der Gesetzgeber hat aber die wertende Entscheidung, welche Ausgaben zum Existenzminimum zählen, sachgerecht und vertretbar zu treffen. Kürzungen von Ausga­b­e­po­si­tionen in den Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe bedürfen zu ihrer Rechtfertigung einer empirischen Grundlage. Der Gesetzgeber darf Ausgaben, welche die Referenzgruppe tätigt, nur dann als nicht relevant einstufen, wenn feststeht, dass sie anderweitig gedeckt werden oder zur Sicherung des Existenz­mi­nimums nicht notwendig sind. Hinsichtlich der Höhe der Kürzungen ist auch eine Schätzung auf fundierter empirischer Grundlage nicht ausgeschlossen; Schätzungen „ins Blaue hinein“ stellen jedoch keine reali­täts­ge­rechte Ermittlung dar.

Regelleistung von 345 Euro ist in nicht verfas­sungs­gemäßer Weise ermittelt worden

4. Die Regelleistung von 345 Euro ist nicht in verfas­sungs­gemäßer Weise ermittelt worden, weil von den Struk­tur­prin­zipien des Statis­tik­modells ohne sachliche Rechtfertigung abgewichen worden ist.

a) Der in § 2 Abs. 2 Regel­satz­ver­ordnung 2005 festgesetzte regelsatz- und damit zugleich regel­leis­tungs­re­levante Verbrauch beruht nicht auf einer tragfähigen Auswertung der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe 1998. Denn bei einzelnen Ausga­b­e­po­si­tionen wurden prozentuale Abschläge für nicht regel­leis­tungs­re­levante Güter und Dienst­leis­tungen (zum Beispiel Pelze, Maßkleidung und Segelflugzeuge) vorgenommen, ohne dass feststand, ob die Vergleichs­gruppe (unterstes Quintil) überhaupt solche Ausgaben getätigt hat. Bei anderen Ausga­b­e­po­si­tionen wurden Kürzungen vorgenommen, die dem Grunde nach vertretbar, in der Höhe jedoch empirisch nicht belegt waren (zum Beispiel Kürzung um 15 % bei der Position Strom). Andere Ausga­b­e­po­si­tionen, zum Beispiel die Abteilung 10 (Bildungswesen), blieben völlig unberück­sichtigt, ohne dass dies begründet worden wäre.

Sachwidriger Maßstabswechsel

b) Zudem stellt die Hochrechnung der für 1998 ermittelten Beträge auf das Jahr 2005 anhand der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts einen sachwidrigen Maßstabswechsel dar. Während die statistische Ermitt­lungs­methode auf Nettoeinkommen, Verbrau­cher­ver­halten und Lebens­hal­tungs­kosten abstellt, knüpft die Fortschreibung nach dem aktuellen Rentenwert an die Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter, den Beitragssatz zur allgemeinen Renten­ver­si­cherung und an einen Nachhal­tig­keits­faktor an. Diese Faktoren weisen aber keinen Bezug zum Existenzminimum auf.

Regelleistung für in Bedarfs­ge­mein­schaft zusammenlebende Partner genügt nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen

5. Die Ermittlung der Regelleistung in Höhe von 311 Euro für in Bedarfs­ge­mein­schaft zusammenlebende Partner genügt nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen, weil sich die Mängel bei der Ermittlung der Regelleistung für Alleinstehende hier fortsetzen, denn sie wurde auf der Basis jener Regelleistung ermittelt. Allerdings beruht die Annahme, dass für die Sicherung des Existenz­mi­nimums von zwei Partnern ein Betrag in Höhe von 180 % des entsprechenden Bedarfs eines Alleinstehenden ausreicht, auf einer ausreichenden empirischen Grundlage.

Sozialgeld für Kinder

6. Das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres von 207 Euro genügt nicht den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben, weil es von der bereits beanstandeten Regelleistung in Höhe von 345 Euro abgeleitet ist. Darüber hinaus beruht die Festlegung auf keiner vertretbaren Methode zur Bestimmung des Existenz­mi­nimums eines Kindes im Alter bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes, der sich im Unterschied zum Bedarf eines Erwachsenen an kindlichen Entwick­lungs­phasen und einer kindgerechten Persön­lich­keits­ent­faltung auszurichten hat, unterlassen. Sein vorgenommener Abschlag von 40 % gegenüber der Regelleistung für einen Alleinstehenden beruht auf einer freihändigen Setzung ohne empirische und methodische Fundierung. Insbesondere blieben die notwendigen Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner etc. unberück­sichtigt, die zum existentiellen Bedarf eines Kindes gehören. Denn ohne Deckung dieser Kosten droht hilfe­be­dürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen. Auch fehlt eine differenzierte Untersuchung des Bedarfs von kleineren und größeren Kindern.

Verfas­sungs­verstöße wurden nicht beseitigt

7. Diese Verfas­sungs­verstöße sind weder durch die Auswertung der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe 2003 und die Neubestimmung des regel­satz­re­le­vanten Verbrauchs zum 1. Januar 2007 noch durch die Mitte 2009 in Kraft getretenen §§ 74 und 24a SGB II beseitigt worden.

Änderungen zum 1. Januar 2007 beseitigten nicht die Mängel

a) Die zum 1. Januar 2007 in Kraft getretene Änderung der Regel­satz­ver­ordnung hat wesentliche Mängel, wie zum Beispiel die Nicht­be­rück­sich­tigung der in der Abteilung 10 (Bildungswesen) der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe erfassten Ausgaben oder die Hochrechnung der für 2003 ermittelten Beträge entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwertes, nicht beseitigt.

Sozialgeld für Kinder ab Beginn des 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres

b) Das durch § 74 SGB II eingeführte Sozialgeld für Kinder ab Beginn des 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Höhe von 70 % der Regelleistung für einen Alleinstehenden genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen bereits deshalb nicht, weil es sich von dieser fehlerhaft ermittelten Regelleistung ableitet. Zwar dürfte der Gesetzgeber mit der Einführung einer dritten Altersstufe und der § 74 SGB II zugrunde liegenden Bemes­sungs­methode einer reali­täts­ge­rechten Ermittlung der notwendigen Leistungen für Kinder im schul­pflichtigen Alter näher gekommen sein. Den Anforderungen an die Ermittlung des kinder­spe­zi­fischen Bedarfs ist er dennoch nicht gerecht geworden, weil die gesetzliche Regelung weiterhin an den Verbrauch für einen erwachsenen Alleinstehenden anknüpft.

c) Die Regelung des § 24 a SGB II, die eine einmalige Zahlung von 100 Euro vorsieht, fügt sich methodisch nicht in das Bedarfssystem des SGB II ein. Zudem hat der Gesetzgeber den notwendigen Schulbedarf eines Kindes bei Erlass des § 24 a SGB II nicht empirisch ermittelt. Der Betrag von 100 Euro pro Schuljahr wurde offensichtlich freihändig geschätzt.

Atypische Bedarfslagen

8. Es ist mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zudem unvereinbar, dass im SGB II eine Regelung fehlt, die einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des menschen­würdigen Existenz­mi­nimums unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs vorsieht. Ein solcher ist für denjenigen Bedarf erforderlich, der deswegen nicht schon von den §§ 20 ff. SGB II abgedeckt wird, weil die Einkommens- und Verbrauchs­s­ta­tistik, auf der die Regelleistung beruht, allein den Durch­schnitts­bedarf in üblichen Bedarfs­si­tua­tionen widerspiegelt, nicht aber einen darüber hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen.

Gewährung einer Regelleistung als Festbetrag ist grundsätzlich zulässig

Die Gewährung einer Regelleistung als Festbetrag ist grundsätzlich zulässig. Wenn das Statistikmodell entsprechend den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben angewandt und der Pauschalbetrag insbesondere so bestimmt worden ist, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfs­po­si­tionen möglich ist, kann der Hilfebedürftige in der Regel sein individuelles Verbrauchs­ver­halten so gestalten, dass er mit dem Festbetrag auskommt; vor allem hat er bei besonderem Bedarf zuerst auf das Ansparpotential zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten ist.

Da ein pauschaler Regel­leis­tungs­betrag jedoch nach seiner Konzeption nur den durch­schnitt­lichen Bedarf decken kann, wird ein in Sonderfällen auftretender Bedarf von der Statistik nicht aussagekräftig ausgewiesen. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebietet allerdings, auch diesen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf zu decken, wenn es im Einzelfall für ein menschen­würdiges Existenzminimum erforderlich ist. Dieser ist im SGB II bisher nicht ausnahmslos erfasst. Der Gesetzgeber hat wegen dieser Lücke in der Deckung des lebens­not­wendigen Existenz­mi­nimums eine Härte­fa­ll­re­gelung in Form eines Anspruchs auf Hilfeleistungen zur Deckung dieses besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II Leistungs­be­rech­tigten vorzugeben. Dieser Anspruch entsteht allerdings erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfe­be­dürftigen gewährten Leistungen - einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berück­sich­tigung von Einspa­r­mög­lich­keiten des Hilfe­be­dürftigen - das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet. Er dürfte angesichts seiner engen und strikten Tatbe­stands­vor­aus­set­zungen nur in seltenen Fällen in Betracht kommen.

Regelungen bleiben bis 31. Dezember 2010 anwendbar

9. Die verfas­sungs­widrigen Normen bleiben bis zu einer Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiterhin anwendbar. Wegen des gesetz­ge­be­rischen

Gestal­tungs­spielraums ist das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht befugt, aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen. Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regel­leis­tungs­beträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er muss vielmehr ein Verfahren zur realitäts- und bedarfs­ge­rechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungs­an­spruch verankern.

Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, die Leistungen rückwirkend neu festzusetzen. Sollte der Gesetzgeber allerdings seiner Pflicht zur Neuregelung bis zum 31. Dezember 2010 nicht nachgekommen sein, wäre ein pflichtwidrig später erlassenes Gesetz schon zum 1. Januar 2011 in Geltung zu setzen.

Der Gesetzgeber ist ferner verpflichtet, bis spätestens zum 31. Dezember 2010 eine Regelung im SGB II zu schaffen, die sicherstellt, dass ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf gedeckt wird. Die nach § 7 SGB II Leistungs­be­rech­tigten, bei denen ein derartiger Bedarf vorliegt, müssen aber auch vor der Neuregelung die erforderlichen Sach- oder Geldleistungen erhalten. Um die Gefahr einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in der Übergangszeit bis zur Einführung einer entsprechenden Härte­fa­ll­klausel zu vermeiden, muss die verfas­sungs­widrige Lücke für die Zeit ab der Verkündung des Urteils durch eine entsprechende Anordnung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts geschlossen werden.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

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