21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.07.2014

Sozia­l­rechtliche Regel­bedarfs­leistungen derzeit noch verfas­sungsgemäßVom Gesetzgeber festgelegte Höhe der existenz­si­chernden Leistungen tragfähig begründbar

Die Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts nach dem Zweiten Buch des Sozial­ge­setz­buches sind derzeit noch verfas­sungsgemäß. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht. Die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, werden im Ergebnis nicht verfehlt. Insgesamt ist die vom Gesetzgeber festgelegte Höhe der existenz­si­chernden Leistungen tragfähig begründbar. Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten zweifelhaft ist, hat der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchs­stich­probe 2013 sicherzustellen.

Gegenstand der Verfahren sind die Regel­be­da­rfs­leis­tungen für Alleinstehende, für zusammenlebende Volljährige, für Kinder bis zu 6 Jahren sowie für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Den zwei konkreten Normen­kon­trollen liegen Klagen miteinander verheirateter Eltern und ihres damals 16-jährigen Sohnes für den Zeitraum Januar 2011 bis Juni 2012 (Az. 1 BvL 10/12) sowie eines alleinstehenden Erwachsenen für den Zeitraum September 2011 bis August 2012 (Az. 1 BvL 12/12) zugrunde. Das Sozialgericht Berlin hält die im Jahr 2011 geänderten Regelungen zur Ermittlung und Festsetzung der Regelbedarfe für verfas­sungs­widrig (vgl. Sozialgericht Berlin, Beschluss v. 25.04.2012 - S 55 AS 9238/12 -); es hat die beiden Verfahren daher ausgesetzt und die Frage ihrer Verfas­sungs­ge­mäßheit dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vorgelegt. Die Verfas­sungs­be­schwerde (Az. 1 BvR 1691/13) hat ein Ehepaar mit seinem 2009 geborenen Sohn erhoben. Ihre Klage gegen den Bescheid des zuständigen Jobcenters für den Zeitraum von Mai bis Oktober 2011 hatte vor dem Sozialgericht Oldenburg keinen Erfolg; das Bundes­so­zi­al­gericht wies die Sprungrevision zurück (vgl. Bundes­so­zi­al­gericht, Urteil v. 28.03.2013 - B 4 AS 12/12 R -).

Grundgesetz gewährt Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht verwies darauf, dass das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums garantiert. Der verfas­sungs­rechtlich garantierte Leistungs­an­spruch erstreckt sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesell­schaft­lichen, kulturellen und politischen Leben.

Bedarf der Hilfe­be­dürftigen muss vom Gesetzgeber zeit- und reali­täts­gerecht erfasst werden

Der Gesetzgeber muss die entsprechenden Bedarfe der Hilfe­be­dürftigen zeit- und reali­täts­gerecht erfassen. Er hat einen Entschei­dungs­spielraum sowohl bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse als auch bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs. Das Ergebnis seiner Einschätzungen muss jedoch tragfähig begründbar sein. Die Verfassung schreibt zwar nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren zu begründen und zu berechnen ist, sondern lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber auch nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenz­mi­nimums vorzunehmen; darum zu ringen ist vielmehr Sache der Politik. Entscheidend ist aber, dass die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden.

Gesetzgeber muss zur Ermittlung der Bedarfe und Berechnung der Leistungen taugliche und sachgerechte Methode wählen

Die Auswahl einer tauglichen und sachgerechten Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen kommt dem Gesetzgeber zu. Er darf aber keine Methode wählen, die existenz­si­chernde Bedarfe ausblendet, muss die Berechnung fortwährend überprüfen und, falls erforderlich, diese weiter­ent­wickeln.

Grundgesetz gibt keinen exakt bezifferten Anspruch auf Leistungen zur Sicherung einer menschen­würdigen Existenz vor

Dem Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht; es setzt sich bei seiner Prüfung nicht an die Stelle des Gesetzgebers. Das Grundgesetz selbst gibt keinen exakt bezifferten Anspruch auf Leistungen zur Sicherung einer menschen­würdigen Existenz vor. Die Verfassung verlangt nur, dass der existenz­si­chernde Bedarf tatsächlich gedeckt wird; die Höhe der Leistungen muss tragfähig begründbar sein.

Entscheidet sich der Gesetzgeber bei der Berechnung des Regelbedarfs für ein Statistikmodell, das Leistungen nach Mittelwerten bestimmter Ausgaben bemisst, muss er Vorkehrungen gegen mit dieser Methode verbundene Risiken einer Unterdeckung treffen. Fügt er Elemente aus dem Warenkorbmodell in diese statistische Berechnung ein, muss er sicherstellen, dass der existenz­si­chernde Bedarf tatsächlich gedeckt ist. Als Pauschalbetrag gewährte Leistungen müssen entweder insgesamt den finanziellen Spielraum sichern, um entstehende Unterdeckungen bei einzelnen Bedarfs­po­si­tionen intern ausgleichen oder Mittel für unter­schiedliche Bedarfe eigen­ver­ant­wortlich ansparen und so decken zu können, oder es muss ein Anspruch auf anderweitigen Ausgleich solcher Unterdeckungen bestehen. Für einen internen Ausgleich darf nicht pauschal darauf verwiesen werden, dass Leistungen zur Deckung sozio­kul­tu­reller Bedarfe als Ausgleichsmasse eingesetzt werden könnten, denn diese gehören zum verfas­sungs­rechtlich geschützten Existenzminimum.

Vorgelegte Vorschriften genügen Vorgaben des Grundgesetzes

Nach diesen Maßstäben genügen die vorgelegten Vorschriften für den entschei­dungs­er­heb­lichen Zeitraum in der erforderlichen Gesamtschau noch den Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Die Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf lässt nicht erkennen, dass der existenz­si­chernde Bedarf evident nicht gedeckt wäre. Der Gesetzgeber berücksichtigt nun für Kinder und Jugendliche auch Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben.

Leistungshöhe ist für sich genommen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Selbst wenn die Leistungshöhe einer politischen Zielvorstellung entsprochen haben mag, ist dies für sich genommen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar entspricht der für das Jahr 2011 ermittelte Regelbedarf der Stufe 1 mit 364 Euro exakt dem Betrag, der sich bei Fortschreibung des 2008 geltenden Regelsatzes ergeben hätte. Aus verfas­sungs­recht­licher Sicht ist jedoch allein entscheidend, dass die Leistungshöhe sich mit Hilfe verlässlicher Daten tragfähig begründen lässt und nicht auf schlicht gegriffenen Zahlen oder Schätzungen ins Blaue hinein beruht.

Mit der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe (EVS) stützt sich der Gesetzgeber auf geeignete empirische Daten.

Heranziehung der einkom­mens­schwächsten 15 % der Haushalte als Bezugsgröße ist sachlich vertretbar

Die Entscheidung, bei der EVS 2008 nur noch die einkom­mens­schwächsten 15 % der Haushalte als Bezugsgröße heranzuziehen (statt wie bei der EVS 2003 die unteren 20 %), ist sachlich vertretbar. Der Gesetzgeber hat auch diejenigen Haushalte aus der Berechnung herausgenommen, deren Berück­sich­tigung zu Zirkelschlüssen führen würde, weil sie ihrerseits fürsor­ge­be­dürftig sind. Dass er die so genannten „Aufstocker“, die neben den Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts über weiteres Einkommen verfügen, nicht herausgenommen hat, hält sich im Rahmen des gesetz­ge­be­rischen Einschät­zungs­spielraums. Der Gesetzgeber ist auch nicht dazu gezwungen, Haushalte in verdeckter Armut, die trotz Anspruchs keine Sozia­l­leis­tungen beziehen, herauszurechnen, da sich ihre Zahl nur annähernd beziffern lässt. Schließlich ist nicht ersichtlich, dass es die Höhe des Regelbedarfs erheblich verzerrt hätte, in die Berechnung Personen einzubeziehen, die Leistungen nach dem Bundes­aus­bil­dungs­för­de­rungs­gesetz erhielten.

Abweichung vom Statistikmodell in einzelnen Punkten noch vertretbar

Soweit der Gesetzgeber in einzelnen Punkten vom Statistikmodell abweicht, lässt sich die Höhe des Regelbedarfs nach der erforderlichen Gesamt­be­trachtung für den entschei­dungs­er­heb­lichen Zeitraum noch tragfähig begründen.

Modifikation des Statis­tik­modells zulässig

Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der Verbrauchs­s­ta­tistik nachträglich einzelne Positionen - in Orientierung an einem Warenkorbmodell - wieder herauszunehmen. Die Modifikationen des Statis­tik­modells dürfen allerdings insgesamt kein Ausmaß erreichen, das seine Tauglichkeit für die Ermittlung der Höhe existenz­si­chernder Regelbedarfe in Frage stellt; hier hat der Gesetzgeber die finanziellen Spielräume für einen internen Ausgleich zu sichern. Derzeit ist die monatliche Regelleistung allerdings so berechnet, dass nicht alle, sondern zwischen 132 Euro und 69 Euro weniger und damit lediglich 72 % bis 78 % der in der EVS erfassten Konsumausgaben als existenz­si­chernd anerkannt werden. Ergeben sich erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Deckung existenzieller Bedarfe, liegt es im Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers, geeignete Nacherhebungen vorzunehmen, Leistungen auf der Grundlage eines eigenen Index zu erhöhen oder Unterdeckungen in sonstiger Weise aufzufangen.

Gesetzgeber muss Leistungen gegebenenfalls erhöhen und Unterdeckungen auffangen

Das gilt beispielsweise für den Haushaltsstrom, wo der Gesetzgeber im Falle außer­ge­wöhn­licher Preiss­tei­ge­rungen bei dieser gewichtigen Ausgabeposition verpflichtet ist, die Berechnung schon vor der regelmäßigen Fortschreibung anzupassen. Es gilt auch für den Mobili­täts­bedarf, wo der Gesetzgeber Ausgaben für ein Kraftfahrzeug nicht als existenz­not­wendig berücksichtigen muss, aber sicherzustellen hat, dass der existenz­not­wendige Mobili­täts­bedarf künftig tatsächlich gedeckt werden kann. Zudem muss eine Unterdeckung beim Bedarf an langlebigen Gütern (wie Kühlschrank oder Waschmaschine), für die derzeit nur ein geringer monatlicher Betrag eingestellt wird, durch die Sozialgerichte verhindert werden, indem sie die bestehenden Regelungen über einmalige Zuschüsse neben dem Regelbedarf verfas­sungs­konform auslegen. Fehlt diese Möglichkeit, muss der Gesetzgeber einen existenz­si­chernden Anspruch schaffen.

BverfG verneint verfas­sungs­rechtliche Bedenken gegen Festsetzung der Regelbedarfe für Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres und Jugendliche zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr

Gegen die Festsetzung der Regelbedarfe für Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres und Jugendliche zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr mit Hilfe von Vertei­lungs­sch­lüsseln bestehen keine verfas­sungs­rechtlich durchgreifenden Bedenken. Die Höhe der Leistungen ist nach der verfas­sungs­rechtlich gebotenen Gesamtschau derzeit nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber muss Veränderungen im Rahmen der nächsten Anpassung des Regelbedarfs Rechnung tragen.

Teilweise Deckung von existenz­si­chernden Bedarfen ist tragfähig begründet

Die teilweise gesonderte Deckung von existenz­si­chernden Bedarfen, insbesondere über das Bildungspaket und das Schulbasispaket, ist tragfähig begründet. Es liegt im Ausge­stal­tungs­spielraum des Gesetzgebers, solche Leistungen teilweise in Form von Gutscheinen zu erbringen. Allerdings müssen die damit abgedeckten Bildungs- und Teilha­be­an­gebote für die Bedürftigen auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein; daher ist die neu geschaffene Ermes­sens­re­gelung zur Erstattung von Aufwendungen für Fahrkosten als Anspruch auszulegen.

Vorgaben zur Fortschreibung der Regelbedarfe in den Jahren ohne Neuermittlung nicht zu beanstanden

Die Vorgaben zur Fortschreibung der Regelbedarfe in den Jahren ohne Neuermittlung weichen nicht unvertretbar von den Struk­tur­prin­zipien der gewählten Ermitt­lungs­methode ab. Der Gesetzgeber hat tragfähig begründet, warum sich die Fortschreibung an die bundes­durch­schnittliche Preis- und Lohnentwicklung anlehnt. Die Preis­ent­wicklung muss allerdings - wie geschehen - im Vergleich zur Lohnentwicklung stärker gewichtet werden, weil gerade bei Leistungen zur Deckung des physischen Existenz­mi­nimums deren realer Wert zu sichern ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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