21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil22.09.2011

EGMR: Beschwerden über teilnah­me­pflichtigen Sexua­l­kun­de­un­terricht an Schulen unzulässigErziehungsrecht der Eltern nicht durch Teilnahme der Kinder am Sexua­l­kun­de­un­terricht und anderen schulischen Veranstaltungen eingeschränkt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Beschwerden mehrerer Eltern für unzulässig erklärt, mit denen diese sich gegen die Weigerung der deutschen Behörden, ihre Kinder vom teilnah­me­pflichtigen Sexua­l­kun­de­un­terricht und anderen schulischen Pflicht­ver­an­stal­tungen zu befreien, wandten. Der Gerichtshof verneint die Auffassung der Eltern, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte ihr Recht, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen Überzeugungen sicherzustellen, unver­hält­nismäßig eingeschränkt hätten.

Die Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens, fünf deutsche Ehepaare, gehören einer baptistischen Glaubens­ge­mein­schaft an. Sie haben jeweils mehrere Kinder, die eine staatliche Grundschule in Salzkotten (Nordrhein-Westfalen) besuchen bzw. besuchten.

Ehepaare beantragt Befreiung der Kinder vom vorgesehenen Sexua­l­kun­de­un­terricht

Im Juni 2005 beantragten zwei der Ehepaare, Willi und Anna Dojan sowie Theodor und Lydia Fröhlich, die Befreiung ihrer Kinder von den für Viertklässler vorgesehenen Unter­richts­s­tunden in Sexualkunde. Insbesondere lehnten sie die Inhalte des für den Unterricht verwendeten Lehrbuchs ab, da diese zum Teil pornografisch seien und christlichen Moral­vor­stel­lungen widersprächen, nach denen Sexualität auf die Ehe beschränkt sein sollte. Die Schule lehnte den Antrag ab, weil die Teilnahme an dem Unterricht nach den anwendbaren Richtlinien und nach dem Lehrplan verpflichtend sei.

Schule verhängt Bußgelder wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht

Die beiden betroffenen Kinder nahmen an den ersten beiden Unter­richts­s­tunden teil, ihre Eltern hinderten sie aber an der Teilnahme an der nächsten Stunde und schickten sie schließlich eine Woche lang gar nicht zur Schule, während der die verbleibenden Stunden in Sexualkunde abgehalten wurden. Alle Elternteile wurden wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht mit einem Bußgeld von 75 Euro belegt.

Eltern werden wegen des Fernhaltens ihrer Kinder von Teilnahme an Theater­pro­jekten und Schulkarneval erneut mit Bußgeldern belegt

Im Januar und Februar 2007 schickten Herr und Frau Dojan ihre Tochter nicht zur Schule während ein Theaterprojekt mit dem Titel „Mein Körper gehört mir“ veranstaltet wurde, das darauf abzielte, die Kinder für das Thema „sexueller Missbrauch“ durch Fremde oder auch Familien­an­ge­hörige zu sensibilisieren und damit zu dessen Vorbeugung beizutragen. Das Thema Vorbeugung sexuellen Missbrauchs gehört zum Lehrplan für Schulen in Nordrhein-Westfalen. Herr und Frau Dojan vertraten die Auffassung, dass das Theaterprojekt und der begleitende Unterricht schädlich für die moralische Entwicklung ihrer Tochter seien. Sie wurden jeweils mit einem Bußgeld von 120 Euro belegt. Im Februar 2007 hielten darüber hinaus das Ehepaar, Eduard und Rita Wiens, eines seiner Kinder und das Ehepaar, Heinrich und Irene Wiens, drei seiner Kinder davon ab, an dem Theaterprojekt teilzunehmen. Im selben Monat hielten Eduard und Rita Wiens sowie das Elternpaar Artur und Anna Wiens zwei ihrer Kinder davon ab, am Schulkarneval teilzunehmen, da dieser mit ihren religiösen und moralischen Vorstellungen unvereinbar sei. Eduard, Rita, Heinrich und Irene Wiens wurden jeweils mit einem Bußgeld von 80 Euro und Artur und Anna Wiens mit einem Bußgeld von 40 Euro wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht belegt.

AG bestätigt Zulässigkeit der verhängten Bußgelder

Das Amtsgericht Paderborn bestätigte die verhängten Bußgelder und befand insbesondere, dass das Erziehungsrecht der Eltern und ihre Religionsfreiheit durch den staatlichen Erzie­hungs­auftrag eingeschränkt seien, der durch die Schulpflicht umgesetzt werde. In Bezug auf das Theaterprojekt vertrat das Gericht die Auffassung, dass die Wissens­ver­mittlung zum Thema sexuelle Gewalt und Missbrauch mit dem Ziel, Kinder dazu zu befähigen, in schwierigen Situationen Hilfe zu finden, ebenso zum staatlichen Erzie­hungs­auftrag gehöre. Hinsichtlich der Karne­vals­ver­an­staltung stellte das Gericht fest, dass diese nicht mit religiösen Handlungen verbunden und ihr Zweck lediglich gewesen sei, dass die Kinder bis zum Ende der Unterrichtszeit am Vormittag gemeinsam hätten feiern können, folglich habe sie nicht gegen das Gebot staatlicher Neutralität und Toleranz verstoßen. Im Übrigen hätten die Kinder die Möglichkeit gehabt, an alternativ angebotenen Aktivitäten teilzunehmen.

Beschwerden der Eltern vor dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht erfolglos

Das Oberlan­des­gericht Hamm bestätigte die Entscheidungen des Amtsgerichts. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nahm die Verfas­sungs­be­schwerden der Ehepaare Dojan und Fröhlich im Juni und Oktober 2007 und im November 2008 ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung an. In einer begründeten Entscheidung vom 21. Juli 2009 nahm das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Verfas­sungs­be­schwerde von Eduard und Rita Wiens nicht zur Entscheidung an. Das Gericht unterstrich, dass der Staat zwar eigene Erziehungsziele verfolgen dürfe, dabei aber Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern aufbringen müsse. Die Entscheidungen der Vorinstanzen hätten diese Grundsätze befolgt. Mit Entscheidung vom selben Tag nahm das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Verfas­sungs­be­schwerde von Artur und Anna Wiens nicht zur Entscheidung an.

Eltern werden wegen Verweigerung der Bußgeld­zah­lungen zu Gefäng­niss­trafen von bis zu 43 Tagen verurteilt

In der Folgezeit hielten die drei Ehepaare Wiens weiter mehrere ihrer Kinder davon ab, an den von ihnen abgelehnten Unter­richt­s­ein­heiten und schulischen Aktivitäten teilzunehmen. Sie wurden deswegen mit Bußgeldern in zunehmender Höhe belegt, deren Zahlung sie verweigerten. Da alle behördlichen Versuche der Bußgeld­voll­streckung scheiterten, wurden die sechs Elternteile den gesetzlichen Vorschriften entsprechend jeweils zu Gefäng­niss­trafen von bis zu 43 Tagen verurteilt.

Eltern sehen sich in ihrem Recht, ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen Überzeugungen zu erziehen, unver­hält­nismäßig eingeschränkt

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) zur Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) sowie auf Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit) und Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK rügten die Beschwer­de­führer, dass die Weigerung der deutschen Behörden, ihre Kinder vom teilnah­me­pflichtigen Sexua­l­kun­de­un­terricht und den anderen von ihnen beanstandeten schulischen Pflicht­ver­an­stal­tungen zu befreien, eine unver­hält­nis­mäßige Einschränkung ihres Rechts, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen Überzeugungen sicherzustellen, dargestellt habe.

Eltern legen Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein

Dem Verfahren lagen fünf Beschwerden zugrunde, die am 19. Dezember 2007 (Dojan gegen Deutschland), am 10. Januar 2008 (Fröhlich gegen Deutschland) und am 5. Februar 2010 (Wiens gegen Deutschland) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt wurden.

Der Gerichtshof hatte bereits in einer früheren Entscheidung festgestellt, dass das deutsche Schulsystem, das eine Schulpflicht in Grundschulen vorsieht und Heimunterricht ausschließt, auf die Integration von Kindern in die Gesellschaft abzielt und der Entstehung von Paral­lel­ge­sell­schaften vorbeugen soll. Diese Überlegungen stehen im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bedeutung von Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft.

Sexua­l­kun­de­un­terricht für Kinder zum kritischen Umgang mit gesell­schaft­lichen Einflüssen notwendig

Ziel des Sexua­l­kun­de­un­ter­richts, von dem die Beschwer­de­führer ihre Kinder hatten befreien wollen, war nach den Schluss­fol­ge­rungen der deutschen Gerichte die neutrale Wissens­ver­mittlung über Zeugung, Verhütung, Schwangerschaft und Geburt auf der Grundlage aktueller wissen­schaft­licher und pädagogischer Erkenntnisse. Ziel des Theater­pro­jektes war die Sensi­bi­li­sierung für den sexuellen Missbrauch von Kindern, um diesem vorzubeugen. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte spiegelten die Zielsetzung der anwendbaren Bestimmungen des Landes­schul­ge­setzes wider, insbesondere, dass die Sexualerziehung Schülerinnen und Schüler alters- und entwick­lungsgemäß mit dem notwendigen Wissen vertraut machen solle, um in Fragen der Sexualität eigene Wertvor­stel­lungen sowie einen selbst­be­stimmten und selbstbewussten Umgang mit der eigenen Sexualität entwickeln zu können. Nach Auffassung der deutschen Gerichte war der Unterricht notwendig, um Kinder zu einem kritischen Umgang mit gesell­schaft­lichen Einflüssen zu befähigen statt diese zu vermeiden. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass diese Ziele mit den in Artikel 2 Protokoll Nr. 1 enthaltenen Grundsätzen Pluralismus und Objektivität im Einklang stehen.

Kinder hatten Möglichkeit, statt an Karne­vals­ver­an­staltung an alternativ angebotenen Aktivitäten teilzunehmen

Die beanstandete Karne­vals­ver­an­staltung war nicht mit religiösen Handlungen verbunden gewesen. Wie die deutschen Gerichte festgestellt hatten, hatte sich die Schule mit den alternativ angebotenen Aktivitäten zudem darum bemüht, die moralischen und religiösen Überzeugungen der Kinder und Eltern, die der baptistischen Glaubens­ge­mein­schaft angehörten, so weit wie möglich zu berücksichtigen.

Beanstandete Unter­richt­s­ein­heiten haben Sexualerziehung entsprechend der religiösen Überzeugungen der Eltern nicht in Frage gestellt

Es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass die beanstandeten Unter­richt­s­ein­heiten und schulischen Aktivitäten die Sexualerziehung durch die Eltern entsprechend ihren religiösen Überzeugungen in Frage gestellt hätten. Auch hatte die Schule im Rahmen dieser Unter­richt­s­ein­heiten keine bevorzugte Behandlung einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck gebracht. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Konvention kein Recht garantiert, nicht mit Meinungen konfrontiert zu werden, die den eigenen Überzeugungen widersprechen. Schließlich hatte es den Beschwer­de­führern freigestanden, ihre Kinder nach der Schule und am Wochenende ihren eigenen religiösen Überzeugungen entsprechend zu erziehen.

Bußgelder nicht unver­hält­nismäßig

Die Weigerung der deutschen Behörden, die Kinder der Beschwer­de­führer von dem beanstandeten Unterricht zu befreien, hielt sich in den Grenzen des Beurtei­lungs­spielraums, den der Staat nach Artikel 2 Protokoll Nr. 1 genießt. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass die den Beschwer­de­führern auferlegten Bußgelder unver­hält­nis­mässig oder ihre Festlegung willkürlich gewesen wären. Die Gefäng­niss­trafen, zu denen die Ehepaare Wiens verurteilt worden waren, stellten keine Sanktion für die von ihnen begangene Ordnungs­wid­rigkeit dar, sondern sie waren lediglich ein Mittel der Bußgeld­voll­streckung. Die Beschwerde war folglich offensichtlich unbegründet und daher unzulässig.

Angesichts dieser Schluss­fol­ge­rungen war der Gerichtshof der Auffassung, dass sich keine separaten Fragen unter Artikel 8 oder 9 stellten.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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