18.10.2024
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Dokument-Nr. 8265

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Beschluss21.07.2009Bundesverfassungsgericht1 BvR 1358/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • DÖV 2009, 866Zeitschrift: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), Jahrgang: 2009, Seite: 866
  • DVBl 2009, 1190Zeitschrift: Das Deutsche Verwaltungsblatt (DVBl), Jahrgang: 2009, Seite: 1190
  • NJW 2009, 3151Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2009, Seite: 3151
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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.07.2009

BVerfG: Eltern haben auch bei Konflikten aus religiösen Gründen Verantwortung für die Einhaltung der SchulpflichtVerfassungs­beschwerde wegen Bußgeld für Verstoß gegen die Schulpflicht nicht zulässig

Eltern, deren Kinder aus religiösen Gründen nicht an schulischen Karnevals­veranstaltungen oder Theater­auf­füh­rungen teilnehmen sollen, dürfen den Nachwuchs nicht eigenmächtig vom Unterricht befreien. Ein Bußgeld wegen Verstoßens gegen die Schulpflicht ist somit rechtmäßig. Eine dagegen gerichtete Verfassungs­beschwerde kann nicht zugelassen werden. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht.

Die Beschwer­de­führer, Mitglieder einer baptistischen Glaubens­ge­mein­schaft, sind Eltern zweier Kinder, die eine Grundschule in Ostwestfalen besuchen. An dieser Schule fanden im Februar 2007 ein Theaterprojekt, das die Kinder für das Thema "sexueller Missbrauch" durch Fremde oder auch Familien­an­ge­hörige sensibilisieren sollte und eine Karne­vals­ver­an­staltung statt. Die Teilnahme an der Karne­vals­ver­an­staltung war insoweit frei als den Kindern stattdessen in der gesamten Unterrichtszeit angeboten wurde, den Schwim­m­un­terricht zu besuchen oder eine in der Turnhalle aufgebaute Bewegungs­land­schaft zu nutzen. Die Kinder der Beschwer­de­führer kamen an den dafür vorgesehen Tagen nicht in die Schule. Eine Befreiung für den Schulunterricht lag nicht vor. Das Amtsgericht setzte deshalb wegen eines zweifachen vorsätzlichen Verstoßes gegen die in § 41 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW statuierte Eltern­ver­ant­wortung für die Einhaltung der Schulpflicht jeweils eine Gesamtgeldbuße von 80 Euro gegen die Beschwer­de­führer fest. Die Rechtsmittel dagegen waren erfolglos.

Eltern bemängeln religiöse Neutralität der Schule

Dagegen haben die Beschwer­de­führer Verfas­sungs­be­schwerde erhoben, da sie sich in ihrer Religionsfreiheit und ihrem Erziehungsrecht verletzt sehen. Sie sind der Ansicht, eine Pflicht zur Teilnahme an einer Karne­vals­ver­an­staltung verletze die religiöse Neutralität der Schule, da Fastnacht ein Fest der katholischen Kirche sei. Es werde heute so gefeiert, dass Katholiken sich vor der Fastenzeit Ess- und Trinkgelagen hingäben, sich maskierten und meist völlig enthemmt - befreit von jeglicher Moral - wie Narren benähmen. Das Theaterprojekt erziehe die Kinder zu einer „freien Sexualität“. Ihnen werde vermittelt, dass sie über ihre Sexualität allein zu bestimmen hätten und ihr einziger Ratgeber dabei, der sie niemals täusche, ihr Gefühl sei. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Beschwer­de­führer die Möglichkeit einer Grund­rechts­ver­letzung nicht hinreichend dargelegt haben.

Staat muss Neutralität und Toleranz bei Erzie­hungs­auftrag wahren

Das Grundrecht auf Glaubens­freiheit unterliegt selbst keinem Geset­zes­vor­behalt, ist aber Einschränkungen zugänglich, die sich aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu gehört der dem Staat in Art. 7 Abs. 1 GG erteilte Erzie­hungs­auftrag. Infolge dessen erfährt das elterliche Erziehungsrecht durch die allgemeine Schulpflicht eine Beschränkung. Im Einzelfall sind Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Erzie­hungs­auftrag des Staates im Wege einer Abwägung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen. Zwar darf der Staat auch unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen, dabei muss er aber Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern aufbringen. Diese Verpflichtung stellt bei strikter Beachtung sicher, dass unzumutbare Glaubens- und Gewis­sens­kon­flikte nicht entstehen und eine Indoktrination der Schüler etwa auf dem Gebiet der Sexualerziehung unterbleibt.

Kinder waren nicht gezwungen aktiv an Veranstaltungen teilzunehmen

Hinsichtlich der Präven­ti­o­ns­ver­an­staltung hat das Amtsgericht in verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandender Weise darauf abgestellt, dass die Schule mit der Sensi­bi­li­sierung der Kinder für etwaigen sexuellen Missbrauch und dem Aufzeigen von Möglichkeiten, sich dem zu entziehen, das ihr obliegende Neutra­li­tätsgebot nicht verletzt hat. Die auf der Glaubens­über­zeugung der Beschwer­de­führer beruhenden elterlichen Vorstellungen von der Sexualerziehung ihrer Kinder sind durch die Präven­ti­o­ns­ver­an­staltung nicht in Frage gestellt worden, weil diese die Kinder nicht dahin beeinflusst hat, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen. Die Bewertung des Amtsgerichts, dass ein Verstoß gegen das Neutra­li­tätsgebot durch die Karne­vals­ver­an­staltung nicht vorliegt, begegnet keinen Bedenken, da diese nicht mit religiösen Handlungen verbunden gewesen ist und die Kinder weder gezwungen waren, sich zu verkleiden noch aktiv mitzufeiern. Karneval oder Fastnacht ist kein katholisches Kirchenfest und heutzutage als bloßes Brauchtum der früher etwa vorhandenen religiösen Bezüge weitgehend entkleidet. Die Auffassung des Amtsgerichts, die Grundrechte der Beschwer­de­führer aus Art. 4 und 6 GG geböten nicht, ihren Kindern eine Konfrontation mit dem Faschings­treiben der übrigen Schüler zu ersparen, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Denn die mit dem Schulbesuch verbundenen Spannungen zwischen der religiösen Überzeugung einer Minderheit und einer damit in Widerspruch stehenden Tradition einer anders geprägten Mehrheit sind grundsätzlich zumutbar. Dies gilt umso mehr, als vorliegend die Schule einen schonenden Ausgleich zwischen den Rechten der Eltern und dem staatlichen Erzie­hungs­auftrag auch dadurch gesucht hat, dass sie mit einem Schwim­m­un­terricht und der Bewegungs­land­schaft in der Turnhalle zwei alternative Angebote zur Verfügung gestellt hat.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

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