18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.05.2006

Religi­o­ns­freiheit schützt nicht vor SchulpflichtVerfolgung von Schul­pflicht­ver­stößen durch Eltern ist rechtmäßig

Die Beschwer­de­führer, die sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet sehen, bei der Kindererziehung den Maßstäben und Vorgaben der Bibel wortgetreu zu folgen und ihre Kinder von Einflüssen fernzuhalten, die den Geboten Gottes zuwiderlaufen, hielten drei ihrer Töchter seit Beginn des Schuljahres 2001/2002 vom weiteren Besuch der örtlichen Gesamtschule ab. Seither werden die Kinder zu Hause unterrichtet. Das Landgericht sprach gegen die Beschwer­de­führer wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus. Die hiergegen erhobene Verfas­sungs­be­schwerde hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht zur Entscheidung angenommen.

Betätigungen und Verhal­tens­weisen, die aus einer bestimmten Glaubenshaltung fließen, sind nicht ohne weiteres jenen Sanktionen zu unterwerfen, die der Staat für ein solches Verhalten bei Fehlen einer religiösen Motivation vorsieht. Die Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubens­über­zeugung zu respektieren, muss jedenfalls dann zu einem Zurückweichen des Strafrechts führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber sich die Bestrafung als eine übermäßige, seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde. Der bewusste Verstoß gegen Strafnormen ist jedoch nur als letzter Ausweg aus einem ansonsten unauflöslichen Konflikt zwischen staatlichen und religiösen Verhal­tens­an­for­de­rungen hinzunehmen.

Die Festsetzung einer Sanktion gegen die Beschwer­de­führer ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden.

Die allgemeine Schulpflicht dient dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erzie­hungs­auftrags. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbst­ver­ant­wort­lichen Persönlichkeit. Er richtet sich auch auf die Heranbildung verant­wort­licher Staatsbürger, die verant­wor­tungs­bewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Die Offenheit für ein breites Spektrum von Meinungen und Auffassungen ist konstitutive Voraussetzung einer öffentlichen Schule in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen.

Der Vortrag der Beschwer­de­führer lässt eine Missachtung des Gebots staatlicher Neutralität und Toleranz in Fragen der Erziehung nicht erkennen. Mit der Vermittlung von Kenntnissen über geschlechtlich übertragbare Krankheiten und über Methoden der Empfäng­nis­ver­hütung im Rahmen des Sexua­l­kun­de­un­ter­richts hat die Schule das ihr obliegende Neutra­li­tätsgebot nicht verletzt. Es ist ebenfalls nicht zu beanstanden, dass nach den Lehrplänen die Evolu­ti­o­ns­theorie im Rahmen des Biolo­gie­un­ter­richts vermittelt und die Behandlung der Schöp­fungs­ge­schichte auf den Religi­o­ns­un­terricht beschränkt bleibt.

Die Beschwer­de­führer können nicht beanspruchen, dass ihre Kinder vollständig von fremden Glaubens­be­kun­dungen oder Ansichten verschont bleiben; in einer Gesellschaft, die unter­schied­lichen Glaubens­über­zeu­gungen Raum gibt, gewährt die Verfassung ein solches Recht nicht. Zudem haben die Beschwer­de­führer nahe liegende Möglichkeiten ungenutzt gelassen, den von ihnen empfundenen Konflikt zwischen Glaubens- und Rechtsgeboten aufzulösen. Sie haben es unterlassen, an Elternabenden teilzunehmen oder sonst ihre Besorgnis um die Erziehung ihrer Kinder in der Schule vorzutragen. Hinzu kommt, dass das vollständige Fernhalten ihrer Töchter vom Schulunterricht unver­hält­nismäßig war. Die Beschwer­de­führer haben nicht dargelegt, weshalb nicht ein Fernbleiben ihrer Kinder nur von bestimmten Unter­richt­s­ein­heiten als milderes Mittel zur Sicherung ihres elterlichen Erzie­hungs­rechts ausgereicht hätte. Auch sonst ist nicht erkennbar, weshalb es Glaubensgründe erfordert haben, ihre Kinder von weltanschaulich neutralen Unter­richts­fächern wie etwa Mathematik und Fremdsprachen abzumelden.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 53/06 des BVerfG vom 20.06.2006

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