18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil01.03.2012

EU-Führerschein muss bei Verstoß gegen das Wohnsit­zer­for­dernis nicht anerkannt werdenGerichtshof der Europäischen Union schränkt Führer­schein­tou­rismus erneut ein

Weigert sich ein Mitgliedstaat, einen Führerschein auszustellen, darf er die Anerkennung eines später in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Führerscheins nicht verweigern. Ein Mitgliedstaat kann jedoch die Anerkennung des Führerscheins dann verweigern, wenn aufgrund von unbestreitbaren, vom Ausstel­ler­mit­gliedstaat herrührenden Informationen feststeht, dass der Inhaber des Führerscheins die Voraussetzung eines ordentlichen Wohnsitzes nicht erfüllte. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall wurde Herr Akyüz in Deutschland in den Jahren 2004 bis 2008 mehrfach strafrechtlich verurteilt, u. a. wegen Körper­ver­letzung, Fahrens ohne Führerschein, gemein­schaft­licher schwerer räuberischer Erpressung sowie Bedrohung und Beleidigung. Mit Bescheid vom 10. September 2008 lehnten die deutschen Behörden, gestützt auf ein medizinisch-psychologisches Gutachten, seinen Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge der Klasse B mit der Begründung ab, dass er die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs nicht erfülle.

Wohnsitz zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins unklar

Am 24. November 2008 erwarb Herr Akyüz jedoch in Dìèín (Tschechische Republik) einen Führerschein. Nach der europäischen Regelung wird der Führerschein von dem Mitgliedstaat ausgestellt, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen ordentlichen Wohnsitz hat. Nach Angaben der Deutschen Botschaft in Prag war bei der zuständigen Auslän­der­behörde und der örtlichen Polizei nicht feststellbar, ob sich Herr Akyüz zu diesem Zeitpunkt in der Tschechischen Republik aufgehalten hatte. Der Auslän­der­behörde lag lediglich eine Meldung für die Zeit vom 1. Juni 2009 bis 1. Dezember 2009 vor. Der Führerschein, der Herrn Akyüz am 8. Juni 2009 in Dìèín ausgestellt worden sein soll, wurde ihm ausweislich der Ablichtung des Führerscheins aber bereits am 24. November 2008 erstmals erteilt. Außerdem stellten die deutschen Behörden fest, dass Herr Akyüz am 5. Dezember 2008 und am 1. März 2009 in Deutschland ein Kraftfahrzeug führte; in beiden Fällen wurde er des Fahrens ohne Fahrerlaubnis schuldig gesprochen.

Verweigerung der Anerkennung zulässig?

Das Landgericht Gießen, das als Berufungs­instanz mit der Sache befasst ist, möchte vom Gerichtshof wissen, ob die deutschen Behörden unter Umständen wie denen des Ausgangs­ver­fahrens dem in der Tschechischen Republik ausgestellten Führerschein die Anerkennung mit der Begründung versagen können, dass dem Betroffenen die erstmalige Ausstellung eines Führerscheins in Deutschland verweigert worden sei oder dass er zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins nicht die Voraussetzung eines Wohnsitzes in der Tschechischen Republik erfüllt habe.

Voraussetzungen für Erhalt der Fahrerlaubnis müssen Behörden des ausstellenden Mitglieds­s­taates prüfen

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass das Unionsrecht* die gegenseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine ohne jede Formalität vorsieht. Es ist Aufgabe des Ausstel­ler­mit­glied­staats, zu prüfen, ob alle Voraussetzungen – insbesondere hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung – erfüllt sind und ob die Erteilung einer Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist. Wenn die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein ausgestellt haben, sind die anderen Mitgliedstaaten daher nicht befugt, die Beachtung der im Unionsrecht vorgesehenen Ausstel­lungs­vor­aus­set­zungen nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist nämlich als Nachweis dafür anzusehen, dass der Inhaber dieses Führerscheins am Tag seiner Ausstellung die erforderlichen Voraussetzungen erfüllte.

Versagen der Anerkennung der Fahrerlaubnis unter bestimmten, eng auszulegenden Voraussetzungen dennoch zulässig

Das Unionsrecht gestattet den Mitgliedstaaten jedoch, sich unter bestimmten Umständen und insbesondere aus Gründen der Sicherheit des Straßenverkehrs auf ihre inner­staat­lichen Vorschriften über die Einschränkung, die Aussetzung, den Entzug oder die Aufhebung der Fahrerlaubnis gegenüber jedem Inhaber eines Führerscheins zu berufen, der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet hat. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Befugnis eines Mitgliedstaats, einem in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Führerschein aus einem dieser Gründe die Anerkennung zu versagen, eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine ist und aus diesem Grund eng auszulegen ist.

Verweigerung der Ausstellung eines Führerscheins begründet nicht Verweigerung der Anerkennung

Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass die Weigerung eines Mitgliedstaats, einen ersten Führerschein auszustellen, nicht zu den Fällen gehört, in denen dieser Staat die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins verweigern kann. Die Weigerung, einen ersten Führerschein auszustellen, kann zwar teilweise mit dem Verhalten des Antragstellers begründet werden, doch kann diese (in einem Verwal­tungs­ver­fahren erfolgte) Weigerung – im Gegensatz zu einer Einschränkung, einer Aussetzung, eines Entzugs oder einer Aufhebung der Fahrerlaubnis – keine Sanktion für einen von diesem Antragsteller begangenen Verstoß sein.

Grundsatz gegenseitiger Anerkennung der Führerscheine darf nicht negiert werden

Hätte ein Mitgliedstaat A die Möglichkeit, die Anerkennung eines in einem Mitgliedstaat B ausgestellten Führerscheins mit der Begründung zu versagen, dass dieser Mitgliedstaat B nicht geprüft habe, ob die vom Mitgliedstaat A für seine Weigerung, einen Führerschein auszustellen, angeführten Gründe entfallen seien, so hätte dies zudem zur Folge, dass der Mitgliedstaat mit den strengsten Ausstel­lungs­be­din­gungen bestimmen könnte, wie hohe Anforderungen die übrigen Mitgliedstaaten einhalten müssen, damit die dort ausgestellten Führerscheine anerkannt werden können. Hielte man einen Mitgliedstaat für berechtigt, die Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins unter Berufung auf seine nationalen Vorschriften unbegrenzt zu verweigern, würde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine geradezu negiert.

Der Gerichtshof stellt im Ergebnis fest, dass das Unionsrecht der Regelung eines Aufnah­me­mit­glied­staats entgegensteht, nach der die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins verweigert wird, wenn seinem Inhaber vom Aufnah­me­mit­gliedstaat die Ausstellung eines Führerscheins mit der Begründung versagt wurde, dass er die nach der nationalen Regelung dieses Staates vorgesehenen körperlichen und geistigen Voraussetzungen nicht erfülle.

Wohnsit­zer­for­dernis muss erfüllt sein

Hinsichtlich der Voraussetzung des Wohnsitzes weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Unionsrecht der Regelung eines Aufnah­me­mit­glied­staats nicht entgegensteht, die es diesem erlaubt, die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn aufgrund unbestreitbarer, vom Ausstel­ler­mit­gliedstaat herrührender Informationen feststeht, dass der Inhaber des Führerscheins nicht die Voraussetzung eines ordentlichen Wohnsitzes erfüllte.

Nationales Gericht muss Erfüllung des Wohnsit­zer­for­der­nisses prüfen

Der Gerichtshof stellt klar, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob Informationen, die unter Umständen wie denen des vorliegenden Falls erlangt wurden, als vom Ausstel­ler­mit­gliedstaat herrührende Informationen eingestuft werden können. Außerdem muss es diese Informationen gegebenenfalls bewerten und unter Berück­sich­tigung aller Umstände des bei ihm anhängigen Verfahrens beurteilen, ob es sich bei ihnen um unbestreitbare Informationen handelt, die belegen, dass der Inhaber des Führerscheins, als dieser ihm ausgestellt wurde, seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstel­ler­mit­glied­staats hatte.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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