18.10.2024
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Dokument-Nr. 19136

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil11.11.2014

Deutschland darf nicht erwerbstätige Unionsbürger von bestimmten Sozia­l­leis­tungen ausschließenNicht auf Arbeitssuche befindliche Rumänin hat keinen Anspruch auf Hartz IV

Nicht erwerbstätige Unionsbürger, die sich allein mit dem Ziel, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, können von bestimmten Sozia­l­leis­tungen ausgeschlossen werden. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

In Deutschland sind Ausländer, die einreisen, um Sozialhilfe zu erhalten, oder deren Aufent­haltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, von den Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen, die insbesondere zur Sicherung des Lebens­un­terhalts ihrer Empfänger dienen*.

Jobcenter verweigert Leistungen, da sich rumänische Staats­an­ge­hörige nicht auf Arbeitssuche befindet

Das Sozialgericht Leipzig ist mit einem Rechtsstreit zwischen zwei rumänischen Staats­an­ge­hörigen, Frau Dano und ihrem Sohn Florin, auf der einen Seite und dem Jobcenter Leipzig, das ihnen Leistungen der Grund­si­che­rung** verweigert hat, auf der anderen Seite befasst. Frau Dano ist nicht nach Deutschland eingereist, um dort Arbeit zu suchen. Sie beantragt Leistungen der Grundsicherung, die Arbeitsuchenden vorbehalten sind, obwohl sie sich, wie aus den Akten hervorgeht, nicht auf Arbeitsuche begeben hat. Sie hat keinen erlernten oder angelernten Beruf und war bislang weder in Deutschland noch in Rumänien erwerbstätig. Sie und ihr Sohn leben mindestens seit November 2010 in Deutschland, wo sie bei einer Schwester von Frau Dano wohnen, die sie mit Naturalien versorgt. Frau Dano bezieht für ihren Sohn Florin Kindergeld in Höhe von monatlich 184 Euro und einen Unter­halts­vor­schuss in Höhe von monatlich 133 Euro. Um diese Leistungen geht es im vorliegenden Fall nicht.

Für Anspruch auf staatliche Leistungen muss Aufenthalt Voraussetzungen der "Unions­bür­ger­richtlinie" erfüllen

In Beantwortung der Fragen des Sozialgerichts Leipzig entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union, dass Staats­an­ge­hörige anderer Mitgliedstaaten eine Gleich­be­handlung mit den Staats­an­ge­hörigen des Aufnah­me­mit­glied­staats hinsichtlich des Zugangs zu bestimmten Sozialleistungen (wie den deutschen Leistungen der Grundsicherung) nur verlangen können, wenn ihr Aufenthalt die Voraussetzungen der „Unions­bür­ger­richtlinie“*** erfüllt.

Unions­bür­ger­richtlinie und Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit steht nationaler Regelung nicht entgegen

Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Aufnah­me­mit­gliedstaat nach der Richtlinie nicht verpflichtet ist, während der ersten drei Monate des Aufenthalts Sozialhilfe zu gewähren. Bei einer Aufent­haltsdauer von mehr als drei Monaten, aber weniger als fünf Jahren (wie im vorliegenden Fall), macht die Richtlinie das Aufent­haltsrecht u. a. davon abhängig, dass nicht erwerbstätige Personen über ausreichende eigene Existenzmittel verfügen. Damit soll verhindert werden, dass nicht erwerbstätige Unionsbürger das System der sozialen Sicherheit des Aufnah­me­mit­glied­staats zur Bestreitung ihres Lebens­un­terhalts in Anspruch nehmen. Ein Mitgliedstaat muss daher die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufent­halts­rechts verfügen, Sozia­l­leis­tungen zu versagen; insoweit ist jeder Einzelfall zu prüfen, ohne die beantragten Sozia­l­leis­tungen zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen entscheidet der Gerichtshof, dass die Unions­bür­ger­richtlinie und die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit**** einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die Staats­an­ge­hörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitrags­u­n­ab­hängiger Geldleistungen“***** ausschließt, während Staats­an­ge­hörige des Aufnah­me­mit­glied­staats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staats­an­ge­hörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnah­me­mit­gliedstaat kein Aufent­haltsrecht nach der Richtlinie zusteht.

Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit regelt nicht Voraussetzungen für Gewährung beitrags­u­n­ab­hängiger Geldleistungen

Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht die Voraussetzungen für die Gewährung besonderer beitrags­u­n­ab­hängiger Geldleistungen regelt. Da hierfür der nationale Gesetzgeber zuständig ist, hat er auch den Umfang der mit derartigen Leistungen sicher­ge­stellten sozialen Absicherung zu definieren. Die Mitgliedstaaten führen somit nicht das Recht der Union durch, wenn sie die Voraussetzungen und den Umfang der Gewährung besonderer beitrags­u­n­ab­hängiger Geldleistungen festlegen, so dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht anwendbar ist.

Rumänische Staatsbürgerin hat mangels ausreichender Existenzmittel kein Recht auf Aufenthalt in Deutschland nach der Unions­bür­ger­richtlinie

In Bezug auf Frau Dano und ihren Sohn führt der Gerichtshof aus, dass sie nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen und daher kein Recht auf Aufenthalt in Deutschland nach der Unions­bür­ger­richtlinie geltend machen können. Folglich können sie sich nicht auf das in der Richtlinie und der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verankerte Diskri­mi­nie­rungs­verbot berufen.

Erläuterungen
* § 7 Abs. 1 Unterabs. 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 SGB XII.

** Dabei handelt es sich um die existenz­si­chernde Regelleistung für Frau Dano und um Sozialgeld für ihren Sohn sowie um anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung.

*** Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77).

**** Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, berichtigt im ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 (ABl. L 338, S. 35) geänderten Fassung. Diese Verordnung gilt nicht für die soziale Fürsorge (wobei dieser Begriff enger ist als in der Unions­bür­ger­richtlinie). Sie gilt jedoch teilweise für „besondere beitrags­u­n­ab­hängige Geldleistungen“, die sowohl Merkmale der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen und deren Finanzierung ausschließlich durch allgemeine Steuern erfolgt. Im vorliegenden Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass der in der Verordnung verankerte Grundsatz der Gleich­be­handlung auf diese Leistungen anwendbar ist.

***** Für Deutschland werden in der Verordnung u. a. die Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts in Form der Grundsicherung für Arbeitsuchende angeführt. Das Sozialgericht Leipzig hat die in Rede stehenden Leistungen als „besondere beitrags­u­n­ab­hängige Geldleistungen“ eingestuft.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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