23.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil23.04.2015

EU-Mitglieds­s­taaten dürfen Gültigkeit eines Führerscheins bei Verkehrs­ver­stößen im eigenen Land aberkennenAberkennung der Gültigkeit der Fahrerlaubnis muss verhältnismäßig sein und darf nicht auf unbestimmte Zeit erfolgen

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass ein Mitgliedsstaat einem Führer­schei­n­inhaber untersagen darf in seinem Hoheitsgebiet zu fahren, nachdem er dort einen Verkehrsverstoß begangen hat, der geeignet ist, seine fehlende Fahreignung herbeizuführen. Allerdings darf dieses Recht nicht unbegrenzt verwehrt werden, und die Bedingungen für seine Wiedererlangung müssen den Verhältnis­mäßig­keits­grund­satz beachten.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Frau Sevda Aykul ist österreichische Staats­an­ge­hörige und wohnt in Österreich, unweit der deutschen Grenze. Nach einer Polizei­kon­trolle in Deutschland ergab die Untersuchung der Blutprobe, dass Frau Aykul unter Einfluss von Cannabis gefahren war und dass sie dieses Rauschmittel zumindest gelegentlich konsumierte. Die deutschen Behörden waren daher der Auffassung, dass Frau Aykul nicht in der Lage sei, das Fahren und den Konsum berauschender Mittel voneinander zu trennen, und dass sie daher zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Frau Aykul wurde daher das Recht abgesprochen, mit ihrem öster­rei­chischen Führerschein in Deutschland zu fahren. Sie wurde darüber informiert, dass sie ihr Recht, in Deutschland zu fahren, wiedererlangen kann, wenn sie ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegt, das in der Regel vom Nachweis der Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel während eines Jahres abhängig ist.

Österreichische Behörden entziehen Fahrerlaubnis der Betroffenen nicht

In Österreich wurde Frau Aykul hingegen weiterhin als zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet angesehen und behielt demnach ihren Führerschein. Die öster­rei­chischen Behörden schreiten nämlich nur ein, wenn eine fehlende Fahreignung wegen des Konsums berauschender Mittel medizinisch festgestellt wird oder wenn Anzeichen bestehen, die eine Abhängigkeit von diesen Mitteln vermuten lassen. Nach dem Protokoll des deutschen Arztes, der die Blutprobe genommen hatte, stand Frau Aykul jedoch nicht merkbar unter dem Einfluss berauschender Mittel.

Betroffene hält ausschließlich österreichische Behörden für Entscheidung über Fahrtaug­lichkeit für zuständig

Frau Aykul rief das Verwal­tungs­gericht Sigmaringen (Deutschland) an, um gegen die deutsche Verwal­tungs­ent­scheidung vorzugehen, mit der ihr das Recht abgesprochen wurde, von ihrem öster­rei­chischen Führerschein in Deutschland Gebrauch zu machen. Ihrer Ansicht nach waren nur die öster­rei­chischen Behörden für die Beantwortung der Frage zuständig, ob sie noch zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet war. In diesem Zusammenhang fragt das Verwal­tungs­gericht Sigmaringen mit Beschluss vom 30. April 2013 den Gerichtshof, ob die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine, wie sie sich aus der Richtlinie 2006/126 über den Führerschein* ergibt, der streitigen Entscheidung entgegensteht.

Mitgliedsstaat darf Anerkennung der Gültigkeit des Führerscheins wegen Zuwider­hand­lungen des Inhabers ablehnen

In seinem Urteil antwortet der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Richtlinie über den Führerschein einen Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins vorübergehend aufhält, nicht daran hindert, die Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins wegen einer Zuwiderhandlung seines Inhabers abzulehnen, die in diesem Gebiet nach Ausstellung des Führerscheins stattgefunden hat und die gemäß den nationalen Rechts­vor­schriften des erstgenannten Mitgliedstaats geeignet ist, die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen herbeizuführen.

Richtlinie erlaubt Mitgliedstaat bei Verkehrs­ver­stößen Ergreifen von Maßnahmen nach nationalen Rechts­vor­schriften

Zwar ist nach der Richtlinie nur der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes befugt, Maßnahmen der Einschränkung, der Aussetzung, des Entzugs oder der Aufhebung eines von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerscheins, die ihre Wirkungen in allen Mitgliedstaaten entfalten, zu ergreifen. Jedoch erlaubt die Richtlinie jedem Mitgliedstaat (und nicht nur dem Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes), wegen der in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung des Inhabers eines zuvor in einem anderen Mitgliedstaat erhaltenen Führerscheins Maßnahmen nach seinen nationalen Rechts­vor­schriften zu ergreifen, deren Tragweite auf dieses Hoheitsgebiet beschränkt ist und deren Wirkung sich auf die Ablehnung beschränkt, in diesem Gebiet die Gültigkeit dieses Führerscheins anzuerkennen.

Zwingende Anerkennung einer Fahrerlaubnis bei Verkehrs­ver­stößen würde dem Ziel einer erhöhten Verkehrs­si­cherheit zuwiderlaufen

Einen Mitgliedstaat zu zwingen, die Gültigkeit eines Führerscheins in einer Situation wie der in Rede stehenden bedingungslos anzuerkennen, liefe dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Erhöhung der Verkehrs­si­cherheit, das die Richtlinie gerade verfolgt, zuwider. Zwar stellt die einem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, dem Inhaber eines Führerscheins wegen einer auf seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung die Erlaubnis zu entziehen, in diesem Gebiet zu fahren, eine Beschränkung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine dar. Allerdings ist diese Beschränkung, mit der die Gefahr von Verkehr­s­un­fällen verringert werden kann, geeignet, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen, was im Interesse aller Bürger ist.

Mitgliedsstaat muss Bedingungen zur Wiedererlangung der Fahrtaug­lichkeit definieren

Des Weiteren stellt der Gerichtshof fest, dass der Mitgliedstaat, der es ablehnt, die Gültigkeit eines Führerscheins in einer Situation wie der in Rede stehenden anzuerkennen, dafür zuständig ist, die Bedingungen festzulegen, die der Inhaber dieses Führerscheins erfüllen muss, um das Recht wieder­zu­er­langen, in seinem Hoheitsgebiet zu fahren.

Mitgliedstaat darf Anerkennung der Gültigkeit einer Fahrerlaubnis nicht auf unbestimmte Zeit versagen

Da nämlich die Weigerung eines Mitgliedstaats, die Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins anzuerkennen, auf nationalen Regeln beruht, die es nicht zwangsläufig in den Rechts­vor­schriften des Ausstel­ler­mit­glied­staats gibt, erscheint es schwerlich vorstellbar, dass die Rechts­vor­schriften dieses letztgenannten Staates die Bedingungen vorsehen, die der Inhaber eines Führerscheins erfüllen müsste, um das Recht wieder­zu­er­langen, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu fahren. Der Gerichtshof weist allerdings auf seine Rechtsprechung hin, wonach ein Mitgliedstaat nicht auf unbestimmte Zeit die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerscheins versagen kann, wenn auf den Inhaber dieses Führerscheins im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eine einschränkende Maßnahme angewandt wurde.

Mitglieds­s­taaten müssen Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz wahren

Es ist Sache des Verwal­tungs­ge­richts Sigmaringen, zu untersuchen, ob sich Deutschland durch die Anwendung seiner eigenen Regeln in Wirklichkeit nicht unbegrenzt der Anerkennung des öster­rei­chischen Führerscheins von Frau Aykul entgegenstellt. In dieser Hinsicht ist es auch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob die von den deutschen Rechts­vor­schriften vorgesehenen Voraussetzungen für die Wiedererlangung des Rechts, in Deutschland zu fahren, den Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz beachten und insbesondere nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des von der Richtlinie verfolgten Ziels (nämlich der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr) angemessen und erforderlich ist.

Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass nach den Angaben der deutschen Regierung, selbst wenn kein medizinisch-psychologisches Gutachten vorliegt, das Recht, in Deutschland von einem in einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerschein Gebrauch zu machen, vollständig wiedererlangt wird, wenn nach Ablauf einer bestimmten Frist (nämlich fünf Jahren im Fall von Frau Aykul) die Eintragung des Eignungsmangels aus dem deutschen Fahreig­nungs­re­gister getilgt worden ist. So kann Frau Aykul nach Ablauf dieser Frist erneut von ihrem Führerschein in Deutschland Gebrauch machen, ohne ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegen zu müssen.

Nationale Maßnahmen stellen wirksames Ziel zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr dar

In Anbetracht dieser Angaben, deren Überprüfung Sache des Verwal­tungs­ge­richts Sigmaringen ist, stellt der Gerichtshof fest, dass die deutschen Bestimmungen der Anerkennung des Führerscheins von Frau Aykul offenbar nicht unbegrenzt entgegenstehen. Außerdem erscheint die Tatsache, dass die Wiedererlangung des Rechts, in Deutschland ein Kraftfahrzeug zu führen, durch Frau Aykul von der Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (dessen Erstellung den Nachweis der Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel während der Dauer eines Jahres voraussetzt) oder vom Ablauf eines Zeitraums von fünf Jahren abhängig gemacht wird, nach Ansicht des Gerichtshofs als ein wirksames und zum Ziel der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr im Verhältnis stehendes Präven­ti­o­ns­mittel.

Erläuterungen

* Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. L 403, S. 18).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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