21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil10.07.2014

Nachweis über Deutsch­kenntnisse bei Ehegat­ten­nachzug von türkischen Staats­an­ge­hörigen verstößt gegen das UnionsrechtSprach­er­for­dernis ist nicht mit der Still­hal­te­klausel des Assoziierungs­ab­kommens mit der Türkei vereinbar

Die Vorgabe, dass Deutschland Ehegatten von rechtmäßig im Inland wohnenden türkischen Staats­an­ge­hörigen ein Visum zum Zweck des Ehegat­ten­nachzugs nur erteilt, wenn sie einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachweisen, verstößt gegen das Unionsrecht. Das 2007 eingeführte Sprach­er­for­dernis ist nicht mit der Still­hal­te­klausel des Assoziierungs­ab­kommens mit der Türkei vereinbar. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Seit 2007 macht Deutschland die Erteilung eines Visums für den Ehegattennachzug von Dritt­staats­an­ge­hörigen grundsätzlich davon abhängig, dass sich der nachzugswillige Ehegatte zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann. Diese neue Bedingung soll Zwangs­ver­hei­ra­tungen verhindern und die Integration erleichtern.

Deutsche Botschaft lehnt Erteilung eines Visums für den Ehegat­ten­nachzug wegen mangelnder Sprach­kenntnisse mehrfach ab

Frau Dogan, die türkische Staats­an­ge­hörige ist und in der Türkei lebt, möchte zu ihrem Ehemann nach Deutschland ziehen. Ihr Ehemann, der ebenfalls türkischer Staats­an­ge­höriger ist, lebt seit 1998 in Deutschland, wo er eine GmbH als deren Mehrheits­ge­sell­schafter leitet und eine Nieder­las­sungs­er­laubnis besitzt. Im Januar 2012 lehnte die Deutsche Botschaft in Ankara zum wiederholten Mal die Erteilung eines Visums für den Ehegat­ten­nachzug an Frau Dogan mit der Begründung ab, dass sie nicht über die erforderlichen Sprach­kenntnisse verfüge.

VG Berlin erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH über Vereinbarkeit einer Sprach­er­for­dernis mit dem Unionsrecht

Frau Dogan erhob hiergegen Klage beim Verwal­tungs­gericht Berlin (Deutschland). Dieses hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob das seit 2007 in Deutschland geltende Sprach­er­for­dernis mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der so genannten Stillhalteklausel vereinbar ist, die Anfang der 1970er Jahre im Rahmen des Assozi­ie­rungs­ab­kommens mit der Türkei vereinbart wurde*. Diese Klausel verbietet die Einführung neuer Beschränkungen der Nieder­las­sungs­frei­heit**.

Still­hal­te­klausel steht nationaler Regelung über erforderliche Sprach­kenntnisse entgegen

In seinem Urteil antwortet der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Still­hal­te­klausel einer nationalen Regelung entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem diese Klausel in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass der Ehegatte eines in diesem Staat wohnenden türkischen Staats­an­ge­hörigen, um zum Zweck der Famili­en­zu­sam­men­führung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen zu können, vor der Einreise nachweisen muss, dass er einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben hat***.

Sprach­er­for­dernis erschwert Famili­en­zu­sam­men­führung

Ein solches Sprach­er­for­dernis erschwert nämlich eine Famili­en­zu­sam­men­führung, indem es die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme des Ehegatten eines türkischen Staats­an­ge­hörigen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu den Vorschriften verschärft, die galten, als die Still­hal­te­klausel in Kraft trat. Eine solche Regelung stellt eine neue Beschränkung der Ausübung der Nieder­las­sungs­freiheit durch die türkischen Staats­an­ge­hörigen im Sinne dieser Klausel dar.

Famili­en­zu­sam­men­führung trägt zur Förderung der Integration in Mitgliedstaat bei

Der Gerichtshof hebt hervor, dass die Famili­en­zu­sam­men­führung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger ist, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zur Förderung ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt.

Erschwerte Famili­en­zu­sam­men­führung kann sich negativ auf Erwer­b­s­tä­tigkeit in Deutschland lebender türkischer Staats­an­ge­höriger auswirken

Auf die Entscheidung eines türkischen Staats­an­ge­hörigen wie Herrn Dogan, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwer­b­s­tä­tigkeit nachzugehen, kann es sich nämlich negativ auswirken, wenn die Rechts­vor­schriften dieses Staates die Famili­en­zu­sam­men­führung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staats­an­ge­hörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann.

Voraussetzungen für Einführung einer neuen Beschränkung nicht gegeben

Schließlich kann zwar die Einführung einer neuen Beschränkung zugelassen werden, sofern sie durch einen zwingenden Grund des Allge­mein­in­teresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Zieles zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht, doch hält der Gerichtshof diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht für gegeben.

automatisch Ablehnung der Famili­en­zu­sam­men­führung durch fehlende Sprach­kenntnisse berücksichtigt keine Umstände des Einzelfalls

Er führt hierzu aus, dass, auch wenn man davon ausgeht, dass die von der deutschen Regierung angeführten Gründe (die Bekämpfung von Zwangs­ver­hei­ra­tungen und die Förderung der Integration) zwingende Gründe des Allge­mein­in­teresses darstellen können, eine nationale Regelung wie das fragliche Sprach­er­for­dernis über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist, da der fehlende Nachweis des Erwerbs hinreichender Sprach­kenntnisse automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Famili­en­zu­sam­men­führung führt, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.

Erläuterungen

* Diese Klausel befindet sich in dem Zusatzprotokoll, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 über den Abschluss des Zusatz­pro­tokolls und des Finanz­pro­tokolls, die am 23. November 1970 unterzeichnet wurden und dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschafts­ge­mein­schaft und der Türkei als Anhänge beigefügt sind, und über die zu deren Inkrafttreten zu treffenden Maßnahmen (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Europäischen Wirtschafts­ge­mein­schaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.

** Als neu gelten dabei Beschränkungen, die nicht schon bestanden, als diese Klausel für den jeweiligen Mitgliedstaat in Kraft trat (für Deutschland: 1. Januar 1973).

*** Nach Ansicht des Gerichtshofs braucht aufgrund dieser Antwort die zweite Frage des Verwal­tungs­ge­richts, ob auch die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Famili­en­zu­sam­men­führung (ABl. L 251, S. 12) dem Sprach­er­for­dernis entgegensteht, nicht geprüft zu werden.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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