21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.05.2018

Abschiebung eines Gefährders trotz drohender Todesstrafe möglichVerfassungs­beschwerde gegen Ausweisung nach Tunesien erfolglos

Die Abschiebung eines Gefährders in ein Zielland, in dem ihm die Verhängung der Todesstrafe droht, verstößt nicht gegen das Grundgesetz, wenn eine Vollstreckung der Todesstrafe ausgeschlossen ist. Zusätzlich muss gewährleistet sein, dass der Betroffene die rechtliche und faktische Möglichkeit hat, die sich aus dem Verzicht auf die Vollstreckung einer Todesstrafe ergebende faktische lebenslange Freiheitsstrafe überprüfen zu lassen, so dass jedenfalls eine Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und nahm damit die Verfassungs­beschwerde eines tunesischen Staats­an­ge­hörigen nicht zur Entscheidung an und erklärte dessen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Untersagung der Abschiebung für erledigt.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens ist tunesischer Staats­an­ge­höriger. Er war erstmals 2003 zu Studienzwecken nach Deutschland eingereist. Im Jahr 2015 kam er unter falschem Namen als angeblich syrischer Flüchtling erneut nach Deutschland. Im August 2016 ordnete das Oberlan­des­gericht Frankfurt am Main die Auslie­fe­rungshaft gegen ihn an, weil ein Auslie­fe­rungs­er­suchen der tunesischen Straf­ver­fol­gungs­be­hörden gegen ihn vorlag. Ihm wurde vorgeworfen, als Angehöriger einer terroristischen Organisation in Tunesien an der Planung und Umsetzung von terroristischen Anschlägen mit zahlreichen Todesopfern beteiligt gewesen zu sein. Auch in Deutschland wurde unter anderem wegen des dringenden Tatverdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gegen ihn ermittelt. Mit Bescheid vom 9. März 2017 wies ihn die zuständige Auslän­der­behörde aus Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung nach Tunesien an. Gerichtlicher Eilrechtsschutz hiergegen blieb erfolglos. Ein Asylantrag wurde als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Seinen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die drohende Abschiebung lehnte das Verwal­tungs­gericht zunächst mit der Maßgabe ab, dass die tunesische Regierung unter anderem zusichere, dass gegen ihn nicht die Todesstrafe verhängt werde und dass seine Behandlung und Unterbringung den Anforderungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention entsprechen werde. Durch Beschluss vom 26. Juli 2017 untersagte das Verwal­tungs­gericht dann allerdings die Abschiebung des Beschwer­de­führers, weil es Zweifel daran hatte, ob die inzwischen aus Tunesien eingeholte Zusicherung diesen Anforderungen entsprach.

BVerwG lehnt Antrag des Beschwer­de­führers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab

Daraufhin ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport mit Verfügung vom 1. August 2017 die Abschiebung des Beschwer­de­führers nach Tunesien wegen seiner terroristischen Aktivitäten zugunsten des "Islamischen Staates" auf der Grundlage des § 58 a AufenthG an. Der Beschwer­de­führer befindet sich in Abschiebehaft, die derzeit bis zum 25. Mai 2018 befristet ist. Über anhängige Rechts­be­schwerden gegen die Abschiebehaft hat der Bundes­ge­richtshof bislang nicht entschieden. Gegen die Abschie­bungs­a­n­ordnung des Ministeriums rief der Beschwer­de­führer erfolglos das Bundes­ver­wal­tungs­gericht an. Dieses lehnte seinen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes am 19. September 2017 zunächst mit der Maßgabe ab, dass die Abschiebung nur zulässig sei, wenn eine tunesische Regie­rungs­stelle zusichere, „dass im Falle der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit der Überprüfung der Strafe mit der Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer gewährt“ werde. Nach umfangreichen Maßnahmen der Sachver­halts­auf­klärung änderte das Bundes­ver­wal­tungs­gericht diesen Beschluss am 26. März 2018 und lehnte den Antrag des Beschwer­de­führers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ohne Beifügung einer Maßgabe ab. Hiergegen hat der Beschwer­de­führer Verfas­sungs­be­schwerde erhoben und beantragt, die Abschiebung im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Abschiebung des Beschwer­de­führers bis zum 7. Mai 2018 untersagt, um eine gründliche Prüfung seiner Verfas­sungs­be­schwerde zu ermöglichen.

Bundes­ver­wal­tungs­gericht ist verfas­sungs­rechtlich gebotener Sachauf­klä­rungs­pflicht ausreichend nachgekommen

Der angegriffene Beschluss verletzt nicht das Recht des Beschwer­de­führers auf effektiven Rechtsschutz. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht ist seiner verfas­sungs­rechtlich gebotenen Sachauf­klä­rungs­pflicht nachgekommen. Es hat eine umfassende Aufklärung zu den rechtlichen und tatsächlichen Umständen einer in Tunesien verhängten Todesstrafe vorgenommen. Dabei hat es in Erfahrung gebracht, welche Straftaten dem Beschwer­de­führer in Tunesien im Einzelnen zur Last gelegt werden, in welchem Stadium sich das Verfahren der Strafverfolgung befindet und welche Strafrahmen die entsprechenden Straf­tat­be­stände vorsehen. Es hat dem Auswärtigen Amt ausführliche und differenzierte Fragen zur Umwandlung einer dem Beschwer­de­führer in Tunesien mit beachtlicher Wahrschein­lichkeit drohenden, nach dem dort seit 1991 ausnahmslos praktizierten Moratorium aber nicht vollstreckbaren Todesstrafe in eine lebenslange beziehungsweise zeitige Freiheitsstrafe und den sich daran anschließenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten einer Straf­re­staus­setzung zur Bewährung gestellt. Auch die Behandlung der nach dem 2015 in Kraft getretenen Antiter­ro­ris­mus­gesetz zum Tode Verurteilten hat das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hinreichend aufgeklärt. Die Antworten auf diese Fragen samt den jeweils relevanten Dokumenten musste es nicht zum Anlass nehmen, über die bereits vorliegenden Auskünfte hinaus weitere Informationen einzuholen.

Todesstrafe wird in Tunesien aufgrund eines Moratoriums seit 1991 nicht mehr vollstreckt

Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwer­de­führer nicht in seinem Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht durfte davon ausgehen, dass eine dem Beschwer­de­führer drohende Todesstrafe nicht vollstreckt wird. Für diese Annahme bestehen hinreichende tatsächliche Grundlagen. Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes und einer in das Verfahren eingeführten Verbalnote des tunesischen Außen­mi­nis­teriums folgt, dass in Tunesien die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums seit 1991 nicht mehr vollstreckt wird. Zudem ist die weitere Einhaltung des Moratoriums durch tunesische Behörden im Zuge der Sachver­halts­auf­klärung durch das Bundes­ver­wal­tungs­gericht und bezogen auf den konkreten Fall des Beschwer­de­führers aktualisiert worden.

Kein Verstoß gegen Recht auf Freiheit und Menschenwürde

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied weiter, dass die durch das Bundes­ver­wal­tungs­gericht bestätigte Abschie­bungs­a­n­ordnung nicht gegen das Recht des Beschwer­de­führers auf Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit der Menschen­wür­de­ga­rantie aus Art. 1 Abs. 1 GG verstößt.

Rechtssystem muss realisierbare Möglichkeit auf Wiedererlangung der Freiheit bereithalten

Die faktische lebenslange Freiheitsstrafe, die aus dem Verzicht auf die Vollstreckung einer Todesstrafe resultiert, begründet im vorliegenden Fall keinen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Allerdings gehört es nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zu den Voraussetzungen eines menschen­würdigen Strafvollzugs, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine konkrete und realisierbare Chance verbleibt, die Freiheit wiedergewinnen zu können. Dies gilt auch für den Fall, dass der Betroffene in einen anderen Staat überstellt wird. Dann muss das dortige Rechtssystem eine realisierbare Möglichkeit auf Wiedererlangung der Freiheit bereithalten. Diese Vorgaben durch das Grundgesetz werden durch Art. 3 EMRK konkretisiert. Ein Verstoß gegen diese Gewährleistung liegt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor, wenn die lebenslange Freiheitsstrafe de jure oder de facto nicht herabsetzbar ist. Für einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten muss bereits im Zeitpunkt der Verhängung der Strafe sowohl eine Aussicht auf Freilassung als auch eine Möglichkeit der Überprüfung der Haftfortdauer bestehen. Ein Verurteilter hat das Recht, bereits bei Verhängung der Strafe zu wissen, was er tun muss, um für eine Freilassung in Betracht zu kommen und unter welchen Bedingungen eine Überprüfung seiner Strafe erfolgen wird.

Möglichkeit einer Haftentlassung bei zum Tode verurteilten Personen in Tunesien möglich

Die Einschätzung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts, dass die Lage in Tunesien diesen Anforderungen genüge, ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Das Gericht hat ermittelt, dass die Möglichkeit einer Haftentlassung bei zum Tode verurteilten Personen in Tunesien von zwei Schritten abhängt. In einem ersten Schritt bedarf es einer Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe durch einen Gnadenakt des Staats­prä­si­denten. In einem zweiten Schritt kann eine Straf­re­staus­setzung nach der Verbüßung von wenigstens 15 Jahren Haft entweder über ein Verfahren nach der tunesischen Straf­pro­zess­ordnung oder durch eine ebenfalls in der Straf­pro­zess­ordnung vorgesehene weitere Begnadigung durch den Staats­prä­si­denten erreicht werden. Diesen Auskünften durfte das Bundes­ver­wal­tungs­gericht entnehmen, dass dieser Überprü­fungs­me­cha­nismus auch bei nach dem tunesischen Antiter­ro­ris­mus­gesetz zum Tode verurteilten Personen Anwendung finden wird.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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