23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil26.02.2020

Geschäftsmäßige Sterbehilfe: Allgemeines Persönlich­keits­recht umfasst Recht auf selbst­be­stimmtes SterbenVerbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung verfas­sungs­widrig

Das allgemeine Persönlich­keits­recht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbst­be­stimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Mit dieser Begründung entschied das Bundes­verfassungs­gericht, dass das in § 217 des Straf­ge­setzbuchs (StGB) normierte Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist, weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleert. Hieraus folgt nicht, dass es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen untersagt ist, die Suizidhilfe zu regulieren. Er muss dabei aber sicherstellen, dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt.

§ 217 StGB (Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung) bedroht denjenigen mit Strafe, der in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt. Hiergegen wenden sich unter anderem Vereine mit Sitz in Deutschland und in der Schweiz, die Suizidhilfe anbieten, schwer erkrankte Personen, die ihr Leben mit Hilfe eines solchen Vereins beenden möchten, in der ambulanten oder stationären Patien­ten­ver­sorgung tätige Ärzte sowie im Bereich suizidbezogener Beratung tätige Rechtsanwälte.

Verletzung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass das Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung das allgemeine Persön­lich­keitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) von zur Selbsttötung entschlossenen Menschen in seiner Ausprägung als Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben verletzt. Das gilt auch dann, wenn die Regelung in enger Auslegung ausschließlich die von Wieder­ho­lungs­absicht getragene Förderung einer Selbsttötung als Akt eigenhändiger Beendigung des eigenen Lebens erfasst.

Das allgemeine Persön­lich­keitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Das allgemeine Persön­lich­keitsrecht gewährleistet das Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden.

Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität

Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der Freiheit sind grundlegende Prinzipien der Verfas­sungs­ordnung, die den Menschen als eine zu Selbst­be­stimmung und Eigen­ver­ant­wortung fähige Person begreift. Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität. Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, dass er stets als selbst­ver­ant­wortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt. Dieser Gedanke autonomer Selbst­be­stimmung wird in den Gewähr­leis­tungs­ge­halten des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts näher konkretisiert. Es sichert die Grund­be­din­gungen dafür, dass der Einzelne seine Identität und Individualität selbstbestimmt finden, entwickeln und wahren kann.

Entscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens ist von existentieller Bedeutung für Persönlichkeit eines Menschen.

Die selbstbestimmte Wahrung der eigenen Persönlichkeit setzt voraus, dass der Mensch über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbst­ver­ständnis stehen. Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, ist von existentieller Bedeutung für die Persönlichkeit eines Menschen. Welchen Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen Gründen er sich vorstellen kann, sein Leben selbst zu beenden, unterliegt höchst­per­sön­lichen Vorstellungen und Überzeugungen. Der Entschluss zur Selbsttötung betrifft Grundfragen menschlichen Daseins und berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen. Das Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben umfasst deshalb nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebens­er­haltende Maßnahmen abzulehnen. Es erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden.

Entschluss des Einzelnen zum Beenden seines Lebens bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung

Das Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krank­heits­zu­stände oder bestimmte Lebens- und Krank­heits­phasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheits­ge­danken des Grundgesetzes fremd ist. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvor­stel­lungen, religiöser Gebote, gesell­schaft­licher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbst­be­stimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

Selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck autonomer Persön­lich­keits­ent­faltung

Das Recht, sich selbst zu töten, kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbst­be­stimmung aufgibt. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persön­lich­keits­ent­faltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde.

Das Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Das Grundgesetz gewährleistet die Entfaltung der Persönlichkeit im Austausch mit Dritten, die ihrerseits in Freiheit handeln. Ist die Wahrnehmung eines Grundrechts von der Einbeziehung Dritter abhängig und hängt die freie Persön­lich­keits­ent­faltung an der Mitwirkung eines anderen, schützt das Grundrecht auch davor, dass es nicht durch ein Verbot gegenüber Dritten, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten, beschränkt wird.

Einschränkung der individuellen Freiheit

§ 217 StGB greift in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht Sterbewilliger ein, auch wenn diese nicht unmittelbare Adressaten der Norm sind. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen, wenn sie in ihrer Zielsetzung und Wirkung einem normativen und direkten Eingriff gleichkommen, und müssen dann von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung entfaltet eine objektiv die Freiheit zum Suizid einschränkende Wirkung. Es macht es dem Einzelnen faktisch weitgehend unmöglich, Suizidhilfe zu erhalten. Diese Einschränkung individueller Freiheit ist von der Zweckrichtung des Verbots bewusst umfasst und begründet einen Eingriff auch gegenüber suizidwilligen Personen. Angesichts der existentiellen Bedeutung, die der Selbst­be­stimmung über das eigene Leben für die personale Identität, Individualität und Integrität zukommt, wiegt der Eingriff besonders schwer.

Gesetzgeber verfolgt mit Verbot geschäfts­mäßiger Förderung der Selbsttötung legitimen Zweck

Der Eingriff ist nicht gerechtfertigt. Das Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhält­nis­mä­ßigkeit zu messen. Diesem genügt ein grund­recht­s­ein­schrän­kendes Gesetz nur, wenn es legitime Zwecke verfolgt, geeignet und erforderlich ist, diese zu erreichen, und die von ihm ausgehenden Einschränkungen hierzu in angemessenem Verhältnis stehen. Der Gesetzgeber verfolgt mit dem Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung einen legitimen Zweck. Die Regelung dient dazu, die Selbst­be­stimmung des Einzelnen über sein Leben und hierdurch das Leben als solches zu schützen.

Gesetzgeber darf konkret drohenden Gefahren für persönliche Autonomie von Seiten Dritter entgegenwirken

Mit diesen Zielen des Autonomie- und des Lebensschutzes dient das Verbot des § 217 StGB der Erfüllung einer in der Verfassung begründeten staatlichen Schutzpflicht und damit einem legitimen Zweck. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichten den Staat, die Autonomie des Einzelnen bei der Entscheidung über die Beendigung seines Lebens und hierdurch das Leben als solches zu schützen. In Wahrnehmung dieser Schutzpflicht ist der Gesetzgeber nicht nur berechtigt, konkret drohenden Gefahren für die persönliche Autonomie von Seiten Dritter entge­gen­zu­wirken. Er verfolgt auch insoweit ein legitimes Anliegen, als er verhindern will, dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebens­be­en­digung durchsetzt. Er darf einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlich­keits­er­wä­gungen, das Leben zu nehmen.

Keine wissen­schaftlich gesicherte Erkenntnisse über langfristige Auswirkungen der Zulassung geschäfts­mäßiger Suizidhilfe

Die Annahme des Gesetzgebers, das Angebot geschäfts­mäßiger Suizidhilfe berge Gefahren für die Selbst­be­stimmung, beruht auf einer von Verfassungs wegen nicht zu beanstandenden Grundlage. Wissen­schaftlich gesicherte Erkenntnisse über die langfristigen Auswirkungen der Zulassung geschäfts­mäßiger Suizidhilfe existieren nicht. Bei dieser Sachlage reicht es aus, wenn sich der Gesetzgeber an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkennt­nis­mög­lich­keiten orientiert hat.

Danach hält die Gefah­ren­prognose des Gesetzgebers einer verfas­sungs­recht­lichen Prüfung stand.

Prüfung des auf freiem Willen beruhenden Suizidwunschs erfolgt oftmals auf Grundlage nicht näher nachvoll­ziehbarer Plausi­bi­li­täts­ge­sichts­punkte

Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung hat sich die Einschätzung des Gesetzgebers, dass die bisherige Praxis geschäfts­mäßiger Suizidhilfe in Deutschland nicht geeignet war, die Willens- und damit die Selbst­be­stim­mungs­freiheit in jedem Fall zu wahren, jedenfalls als vertretbar erwiesen. Die Prüfung, ob ein Suizidwunsch auf einen freien Willen zurückgeht, erfolgte oftmals auf der Grundlage nicht näher nachvoll­ziehbarer Plausi­bi­li­täts­ge­sichts­punkte; insbesondere wurde von Sterbe­hil­fe­or­ga­ni­sa­tionen bei Vorliegen körperlicher oder psychischer Erkrankungen auch ohne Kenntnis der medizinischen Unterlagen des Sterbewilligen und ohne Sicherstellung einer fachärztlichen Untersuchung, Beratung und Aufklärung Suizidhilfe geleistet. Die Annahme des Gesetzgebers, dass bei einer Einbeziehung geschäftsmäßig handelnder Suizidhelfer Leistungen im Vordergrund stehen, die der Durchführung des Suizids dienen, und deshalb die freie Willensbildung und die Entschei­dungs­findung nicht hinreichend sichergestellt sind, ist hiernach plausibel.

Häufiges Motiv für assistierten Suizid ist ausweislich der Wunsch, Angehörigen oder Dritten nicht zur Last zu fallen

Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass geschäftsmäßige Suizidhilfe zu einer "gesell­schaft­lichen Normalisierung" der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebens­be­en­digung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne, die geeignet sei, autono­mie­ge­fährdende soziale Pressionen auszuüben, ist nachvollziehbar. In Ländern mit liberalen Regelungen zur Suizid- und Sterbehilfe ist ein stetiger Anstieg assistierter Selbsttötungen und von Tötungen auf Verlangen zu verzeichnen. Dieser Anstieg ist für sich genommen zwar kein Nachweis für eine gesell­schaftliche Normalisierung und autono­mie­ge­fähr­denden sozialen Druck. Er kann auch mit einer größeren Akzeptanz der Sterbe- und Suizidhilfe in der Gesellschaft, der Stärkung des Selbst­be­stim­mungs­rechts oder dem gewachsenen Bewusstsein erklärt werden, dass der eigene Tod nicht mehr als unbeein­flussbares Schicksal hingenommen werden muss. Gleichwohl durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass von einem unregulierten Angebot geschäfts­mäßiger Suizidhilfe Gefahren für die Selbst­be­stimmung ausgehen können. Dies gilt - angesichts des steigenden Kostendrucks in den Pflege- und Gesund­heits­systemen - insbesondere vor dem Hintergrund, dass Versor­gungs­lücken in der Medizin und der Pflege geeignet sind, Ängste vor dem Verlust der Selbst­be­stimmung hervorzurufen und dadurch Suizi­dent­schlüsse zu fördern. Auch die einem Suizid häufig zugrun­de­liegende Motivationslage stützt die Einschätzung des Gesetzgebers. Häufiges Motiv für einen assistierten Suizid ist ausweislich von Untersuchungen im In- und Ausland der Wunsch, Angehörigen oder Dritten nicht zur Last zu fallen.

Einschränkung des Rechts auf selbst­be­stimmtes Sterben nicht angemessen

Die Regelung des § 217 StGB stellt als Strafnorm grundsätzlich auch ein geeignetes Instrument des Rechts­gü­ter­schutzes dar, weil das strafbewehrte Verbot gefahr­trächtiger Handlungsweisen den erstrebten Rechts­gü­ter­schutz zumindest fördern kann. Ob die Regelung erforderlich ist, um die legitimen Schutzanliegen des Gesetzgebers zu erreichen, kann offenbleiben. Die von der Vorschrift ausgehende Einschränkung des Rechts auf selbst­be­stimmtes Sterben ist jedenfalls nicht angemessen.

Gesetzgeber ist strenge Bindungen bei Ausgestaltung eines Schutzkonzepts im Zusammenhang mit der Suizidhilfe auferlegt

Angemessen ist eine Freiheits­ein­schränkung nur dann, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei müssen die Interessen des Gemeinwohls desto gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Andererseits wird der Gemein­schafts­schutz desto dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grund­rechts­ausübung erwachsen können. Dabei unterliegt die Entscheidung des Gesetzgebers einer hohen Kontrolldichte, wenn schwere Grund­recht­s­ein­griffe in Frage stehen. Die existentielle Bedeutung, die der Selbst­be­stimmung speziell für die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität im Umgang mit dem eigenen Leben zukommt, legt dem Gesetzgeber daher strenge Bindungen bei der normativen Ausgestaltung eines Schutzkonzepts im Zusammenhang mit der Suizidhilfe auf.

Mit dem Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung hat der Gesetzgeber diese Bindungen überschritten. Der hohe verfas­sungs­rechtliche Rang der Rechtsgüter Autonomie und Leben, die § 217 StGB schützen will, kann den Einsatz des Strafrechts zwar grundsätzlich legitimieren. Bei der staatlichen Aufgabe, ein geordnetes menschliches Zusammenleben durch Schutz der elementaren Werte des Gemein­schafts­lebens zu schaffen, zu sichern und durchzusetzen, kommt dem Strafrecht eine unverzichtbare Funktion zu. Im Einzelfall kann es die Schutzpflicht des Staates insbesondere gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, dass bereits die Gefahr von Grund­rechts­ver­let­zungen eingedämmt wird.

Menschenbild ist von Würde des Menschen und freier Entfaltung der Persönlichkeit in Selbst­be­stimmung und Eigen­ver­ant­wortung bestimmt

Der legitime Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens findet seine Grenze aber dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird. Die Straflosigkeit der Selbsttötung und der Hilfe dazu steht als Ausdruck der verfas­sungs­rechtlich gebotenen Anerkennung individueller Selbst­be­stimmung nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers. Der Verfas­sungs­ordnung des Grundgesetzes liegt ein Menschenbild zugrunde, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbst­be­stimmung und Eigen­ver­ant­wortung bestimmt ist. Dieses Menschenbild hat Ausgangspunkt jedes regulatorischen Ansatzes zu sein. Die staatliche Schutzpflicht zugunsten der Selbst­be­stimmung und des Lebens kann folgerichtig erst dort gegenüber dem Freiheitsrecht des Einzelnen den Vorrang erhalten, wo dieser Einflüssen ausgeliefert ist, die die Selbst­be­stimmung über das eigene Leben gefährden. Diesen Einflüssen darf die Rechtsordnung durch Vorsorge und durch Siche­rungs­in­strumente entgegentreten. Jenseits dessen ist die Entscheidung des Einzelnen, entsprechend seinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz dem Leben ein Ende zu setzen, hingegen als Akt autonomer Selbst­be­stimmung anzuerkennen.

Gesetzgeber darf verfas­sungs­rechtlich geschütztes Recht auf Selbst­be­stimmung nicht außer Kraft setzen

Die Anerkennung des Rechts auf selbst­be­stimmtes Sterben versagt dem Gesetzgeber demnach nicht, allgemeine Suizid­prä­vention zu betreiben und insbesondere krank­heits­be­dingten Selbst­tö­tungs­wünschen durch Ausbau und Stärkung pallia­tiv­me­di­zi­nischer Behand­lungs­an­gebote entge­gen­zu­wirken. Er muss auch denjenigen Gefahren für die Autonomie und das Leben entgegentreten, die in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebens­ver­hält­nissen begründet liegen und eine Entscheidung des Einzelnen für die Selbsttötung und gegen das Leben beeinflussen können. Dieser sozia­l­po­li­tischen Verpflichtung darf der Gesetzgeber sich aber nicht dadurch entziehen, dass er das verfas­sungs­rechtlich geschützte Recht auf Selbst­be­stimmung außer Kraft setzt. Dem Einzelnen muss die Freiheit verbleiben, auf die Erhaltung des Lebens zielende Angebote auszuschlagen und eine seinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz entspringende Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe Dritter zu beenden, umzusetzen. Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbst­ver­ständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichtet.

Diesen verfas­sungs­rechtlich zwingend zu wahrenden Entfaltungsraum autonomer Selbst­be­stimmung verletzt das Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung. Es führt im Gefüge mit der bei seiner Einführung vorgefundenen Gesetzeslage dazu, dass das Recht auf Selbsttötung in weiten Teilen faktisch entleert ist. Die Regelung des § 217 StGB ist zwar auf eine bestimmte - die geschäftsmäßige - Form der Förderung der Selbsttötung beschränkt. Auch der damit einhergehende Verlust an Autonomie ist aber jedenfalls so weit und so lange unver­hält­nismäßig, wie verbleibende Optionen nur eine theoretische, nicht aber die tatsächliche Aussicht auf Selbst­be­stimmung bieten.

Für Einzelnen bestehen derzeit kaum Möglichkeiten für Selbsttötung jenseits geschäfts­mäßiger Angebote der Suizidhilfe

Die autono­mie­feindliche Wirkung des § 217 StGB wird gerade dadurch intensiviert, dass dem Einzelnen in vielen Situationen jenseits geschäfts­mäßiger Angebote der Suizidhilfe keine verlässlichen realen Möglichkeiten verbleiben, einen Entschluss zur Selbsttötung umzusetzen. Die nach § 217 StGB bei enger Auslegung straffrei verbleibende Suizidhilfe im Einzelfall verhilft der verfas­sungs­rechtlich gebotenen Selbst­be­stimmung am Lebensende nicht hinreichend zur Durchsetzung. Die still­schweigende Annahme des Gesetzgebers, Möglichkeiten zur assistierten Selbsttötung seien außerhalb geschäfts­mäßiger Angebote tatsächlich verfügbar, nimmt nicht die Einheit der Rechtsordnung in Bedacht. Schließt der Gesetzgeber bestimmte Formen der Freiheits­ausübung unter Verweis auf fortbestehende Alternativen aus, so müssen die verbleibenden Handlungs­op­tionen zur Grund­rechts­ver­wirk­lichung auch tatsächlich geeignet sein. Dies gilt im Besonderen für das Recht auf Selbsttötung. Hier ist bereits die individuelle Gewissheit identi­täts­s­tiftend, tatsächlich eigener Vorstellung entsprechend handeln zu können.

Aus dem Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab

Dem wird der Verzicht auf ein umfassendes straf­recht­liches Verbot der Suizidhilfe allein nicht gerecht. Ohne geschäftsmäßige Angebote der Suizidhilfe ist der Einzelne maßgeblich auf die individuelle Bereitschaft eines Arztes angewiesen, an einer Selbsttötung zumindest durch Verschreibung der benötigten Wirkstoffe assistierend mitzuwirken. Von einer solchen individuellen ärztlichen Bereitschaft wird man bei realistischer Betrach­tungsweise nur im Ausnahmefall ausgehen können. Ärzte zeigen bislang eine geringe Bereitschaft, Suizidhilfe zu leisten, und können hierzu auch nicht verpflichtet werden; aus dem Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab. Zudem setzt das ärztliche Berufsrecht der Bereitschaft, Suizidhilfe zu leisten, weitere Grenzen. Die in den Berufsordnungen der meisten Landes­ärz­te­kammern festge­schriebenen berufs­recht­lichen Verbote ärztlicher Suizidhilfe unterstellen die Verwirklichung der Selbst­be­stimmung des Einzelnen nicht nur geografischen Zufälligkeiten, sondern wirken zumindest faktisch handlungs­leitend. Der Zugang zu Möglichkeiten der assistierten Selbsttötung darf aber nicht davon abhängen, dass Ärzte sich bereit zeigen, ihr Handeln nicht am geschriebenen Recht auszurichten, sondern sich unter Berufung auf ihre eigene verfas­sungs­rechtlich verbürgte Freiheit eigenmächtig darüber hinwegsetzen. Solange diese Situation fortbesteht, schafft sie einen tatsächlichen Bedarf nach geschäfts­mäßigen Angeboten der Suizidhilfe.

Keine Pflicht zur Inanspruchnahme pallia­tiv­me­di­zi­nischer Behandlung

Verbesserungen der pallia­tiv­me­di­zi­nischen Patien­ten­ver­sorgung sind ebenso wenig geeignet, eine unver­hält­nis­mäßige Beschränkung der individuellen Selbst­be­stimmung auszugleichen. Sie mögen bestehende Defizite beseitigen und hierdurch geeignet sein, die Zahl darauf zurück­zu­füh­render Sterbewünsche todkranker Menschen zu reduzieren. Sie sind aber kein Korrektiv zur Beschränkung in freier Selbst­be­stimmung gefasster Selbst­tö­tungs­ent­schlüsse. Eine Pflicht zur Inanspruchnahme pallia­tiv­me­di­zi­nischer Behandlung besteht nicht. Die Entscheidung für die Beendigung des eigenen Lebens umfasst zugleich die Entscheidung gegen bestehende Alternativen und ist auch insoweit als Akt autonomer Selbst­be­stimmung zu akzeptieren.

Die staatliche Gemeinschaft darf den Einzelnen zudem nicht auf die Möglichkeit verweisen, im Ausland Angebote der Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Der Staat muss den erforderlichen Grund­rechts­schutz gemäß Art. 1 Abs. 3 GG innerhalb der eigenen Rechtsordnung gewährleisten.

Aspekte des Schutzes Dritter individueller Selbst­be­stimmung des Einzelnen nicht beschränken

Schließlich sind Aspekte des Schutzes Dritter nicht geeignet, die von § 217 StGB ausgehende Beschränkung individueller Selbst­be­stimmung zu rechtfertigen. Der Einzelne muss sich zwar diejenigen Schranken grund­recht­licher Freiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht. Allerdings muss dabei die Eigen­stän­digkeit der Person gewahrt bleiben. Anliegen des Schutzes Dritter wie die Vermeidung von Nachah­mungs­ef­fekten rechtfertigen nicht, dass der Einzelne die faktische Entleerung des Rechts auf Selbsttötung hinnehmen muss.

Diese Bewertung steht im Einklang mit der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte formulierten konven­ti­o­ns­recht­lichen Wertungen.

Gewährleistung des Rechts auf Selbsttötung korrespondiert auch mit weitreichendem Schutz des Handelns von Suizi­das­sis­tenten

§ 217 StGB verletzt zudem Grundrechte von Personen und Vereinigungen, die Suizidhilfe leisten möchten. Das Verbot der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung verstößt aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht von selbstbestimmt zur Selbsttötung entschlossenen Personen gegen objektives Verfas­sungsrecht und ist infolgedessen auch gegenüber unmittelbaren Normadressaten nichtig. Der verfas­sungs­rechtliche Schutz des durch § 217 StGB unter Strafe gestellten Handelns ergibt sich aus einer funktionalen Verschränkung der Grundrechte von Suizidhilfe leistenden Personen und Vereinigungen, insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 GG oder subsidiär Art. 2 Abs. 1 GG, mit dem Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben. Die Entscheidung zur Selbsttötung ist in ihrer Umsetzung nicht nur in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte bereit sind, Gelegenheit zur Selbsttötung zu gewähren, zu verschaffen oder zu vermitteln. Die Dritten müssen ihre Bereitschaft zur Suizidhilfe auch rechtlich umsetzen dürfen. Der Gewährleistung des Rechts auf Selbsttötung korrespondiert daher auch ein entsprechend weitreichender grund­recht­licher Schutz des Handelns von Suizi­das­sis­tenten.

Bußgeld­be­weh­rungen verletzen deutsche Sterbe­hil­fe­vereine in Grundrechten

Mit der Androhung einer Freiheitsstrafe verletzt das Verbot des § 217 StGB Suizidhelfer, die als natürliche Personen unmittelbare Normadressaten sind, zudem in ihrem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Eine mögliche, an die Strafbarkeit der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung geknüpfte Bußgeld­be­wehrung verletzt deutsche Sterbe­hil­fe­vereine in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. § 217 StGB ist wegen der festgestellten Verfas­sungs­verstöße für nichtig zu erklären. Eine einschränkende verfas­sungs­konforme Auslegung ist nicht möglich, weil sie den Absichten des Gesetzgebers zuwiderliefe.

Gesetzgeber darf Suizidhilfe grundsätzlich regulieren

Daraus folgt nicht, dass der Gesetzgeber die Suizidhilfe nicht regulieren darf. Eine solche Regelung muss sich aber an der Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen ausrichten, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten. Zum Schutz der Selbst­be­stimmung über das eigene Leben steht dem Gesetzgeber in Bezug auf organisierte Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen. Sie reichen von prozeduralen Siche­rungs­me­cha­nismen, etwa gesetzlich festge­schriebener Aufklärungs- und Wartepflichten, über Erlaub­nis­vor­behalte, die die Zuverlässigkeit von Suizid­hil­fe­an­geboten sichern, bis zu Verboten besonders gefahr­trächtiger Erschei­nungs­formen der Suizidhilfe. Diese können auch im Strafrecht verankert oder jedenfalls durch strafrechtliche Sanktionierung von Verstößen abgesichert werden. Das Recht auf Selbsttötung verbietet es aber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, sie etwa vom Vorliegen einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen. Dennoch können je nach Lebenssituation unter­schiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbst­tö­tungs­willens gestellt werden. Allerdings muss dem Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichender Raum zur Entfaltung und Umsetzung belassen werden. Das erfordert nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker, sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäu­bungs­mit­tel­rechts. Dies schließt nicht aus, die im Bereich des Arzneimittel- und des Betäu­bungs­mit­tel­rechts verankerten Elemente des Verbraucher- und des Missbrauchs­schutzes aufrecht­zu­er­halten und in ein Schutzkonzept zur Suizidhilfe einzubinden.

All dies lässt unberührt, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm/kg)

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