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Dokument-Nr. 22069

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Beschluss21.12.2015Bundesverfassungsgericht2 BvR 2347/15
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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.12.2015

Strafbarkeit der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung: Verein scheitert mit Eilantrag gegen Sterbehilfe-ParagrafenErfolgloser Antrag auf einstweilige Anordnung gegen die Strafbarkeit der geschäfts­mäßigen Förderung der Selbsttötung

Vier Mitglieder des Hamburger Vereins "Sterbehilfe Deutschland" scheiterten mit ihrem Versuch, den neuen Paragrafen 217 des Straf­ge­setz­buches bis zur Entscheidung über ihre Verfassungs­beschwerde außer Kraft setzen zu lassen.

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den seit 10. Dezember 2015 gültigen § 217 des Straf­ge­setz­buches (StGB) abgelehnt. Der Beschluss beruht auf einer Folgenabwägung: Die Beschwer­de­führer werden durch die Ablehnung des Antrags zwar - jedenfalls bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - daran gehindert, die von ihnen grundsätzlich gewünschte Form einer begleiteten Selbsttötung in Anspruch zu nehmen. Im Fall des Erlasses der einstweiligen Anordnung wäre jedoch zu besorgen, dass sich Personen, die in weit geringerem Maße als die Beschwer­de­führer zu einer selbst­be­stimmten und reflektierten Entscheidung über das eigene Sterben in der Lage sind, zu einem Suizid verleiten lassen könnten. Insgesamt wögen die Nachteile bei Außer­voll­zug­setzung der Vorschrift daher schwerer als die nachteiligen Folgen, die den Beschwer­de­führern durch deren Weitergeltung entstehen. Über die Verfas­sungs­be­schwerde in der Hauptsache wird zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.

Sachverhalt

Nach § 217 StGB macht sich strafbar, wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt. Die Tat wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die vier Beschwer­de­führer sind Mitglieder des Vereins Sterbehilfe Deutschland e.V., der ihnen auf ihren Wunsch hin und nach Maßgabe seiner ethischen Grundsätze die Zusage erteilt hat, sie im Falle eines eigen­ver­ant­wort­lichen Sterbewunsches bei einer Selbsttötung zu unterstützen. Im Hinblick auf den neuen § 217 StGB hat der Verein jedoch erklärt, keine Suizid­be­glei­tungen mehr durchzuführen.

Antrag auf einstweilige Anordnung ist nicht begründet

Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind zulässig, aber unbegründet. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundes­ver­fas­sungs­gericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Hierfür nimmt das Bundes­ver­fas­sungs­gericht eine Folgenabwägung vor. Die Erfolgs­aus­sichten in der Hauptsache haben außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfas­sungs­be­schwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Wenn die Außer­voll­zug­setzung eines Gesetzes begehrt wird, ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, da der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein Gesetz in die Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers eingreift.

Beschwer­de­führer müssen bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache warten

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Derzeit ist jedoch in Anbetracht des besonders strengen Prüfungs­maßstabs nicht feststellbar, dass die Beschwer­de­führer bei Fortgeltung der angegriffenen Strafvorschrift bis zur Entscheidung in der Hauptsache so gravierende Nachteile erleiden würden, dass es zum jetzigen Zeitpunkt unabdingbar wäre, das angegriffene Gesetz außer Vollzug zu setzen.

Sofern § 217 StGB nicht außer Vollzug gesetzt wird, wären die Beschwer­de­führer jedenfalls bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache gehindert, die von ihnen grundsätzlich gewünschte Form einer begleiteten Selbsttötung in Anspruch zu nehmen. Sie setzen sich selbst zwar keinem Straf­ba­r­keits­risiko aus. Jedoch verhindert das strafbewehrte Verbot einer geschäfts­mäßigen Sterbehilfe, dass der Verein Sterbehilfe Deutschland e.V. die den Beschwer­de­führern zugesagte Unterstützung leistet. Dabei ist jedoch zum einen zu berücksichtigen, dass die Beschwer­de­führer ihren grundsätzlichen Wunsch nach einem begleiteten Suizid bereits in einem Zeitraum von Mai 2013 bis Januar 2014 geäußert haben, ohne dass sich seitdem ihr Wunsch aktualisiert hätte. Zum anderen könnte die beabsichtigte Form der begleiteten Selbsttötung im Falle eines Erfolgs der Verfas­sungs­be­schwerde in der Hauptsache noch realisiert werden; der Eintritt irreversibler Folgen ist somit nicht zu befürchten. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die von den Beschwer­de­führern gewünschte Selbst­be­stimmung über ihr eigenes Sterben durch eine Fortgeltung des § 217 StGB nicht vollständig verhindert, sondern lediglich hinsichtlich des als Unterstützer in Betracht kommenden Personenkreises beschränkt wird. Selbst die Inanspruchnahme professioneller ärztlicher Unterstützung wäre für die Beschwer­de­führer nicht gänzlich ausgeschlossen, sofern der betreffende Helfer nicht das Tatbe­stands­merkmal der Geschäfts­mä­ßigkeit erfüllt.

Für den Fall, dass die einstweilige Anordnung ergeht, die Verfas­sungs­be­schwerde aber später erfolglos bliebe, sind nicht nur die Auswirkungen auf die Beschwer­de­führer, sondern auf alle von dem Gesetz Betroffenen zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber sieht die Gefahr, dass der „fatale Anschein einer Normalität“ und schlimms­tenfalls sogar der sozialen Gebotenheit der Selbsttötung entstehen und dadurch auch Menschen zur Selbsttötung verleitet werden könnten, die dies ohne ein Angebot eines assistierten Suizids aus eigenem Antrieb nicht täten. Weder der Vortrag der Beschwer­de­führer noch sonstige Anhaltspunkte lassen darauf schließen, dass die tatsächlichen Feststellungen, von denen der Gesetzgeber ausgegangen ist, offensichtlich fehlerhaft sein könnten und die von diesem prognostizierte weitere Entwicklung einer rationalen Grundlage entbehren könnte. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass bei Erlass der einstweiligen Anordnung der durch § 217 StGB bezweckte Schutz menschlichen Lebens als eines grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechtsguts von höchstem Rang und der Schutz des autonomen Umgangs des Einzelnen mit diesem Rechtsgut vor einer jedenfalls abstrakten Gefährdung entfallen würde. Die Anzahl der Personen, bei denen sich diese abstrakte Gefährdung vom Zeitpunkt des Erlasses der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache realisieren könnte, ist dabei kaum einzuschätzen.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht (pm/pt)

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