21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.01.2015

Pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen nicht mit der Verfassung vereinbar§ 57 Abs. 4 Satz 3 des Schulgesetzes verstößt gegen Verbot der Benachteiligung aus religiösen Gründen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erschei­nungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen mit deren Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht vereinbar ist. § 57 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes sind daher verfas­sungs­konform dahingehend einzuschränken, dass von einer äußeren religiösen Bekundung nicht nur eine abstrakte, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr der Beein­träch­tigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausgehen muss, um ein Verbot zu rechtfertigen. § 57 Abs. 4 Satz 3 des Schulgesetzes, der als Privilegierung zugunsten christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen konzipiert ist, verstößt gegen das Verbot der Benachteiligung aus religiösen Gründen (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Art. 33 Abs. 3 GG) und ist daher nichtig. Die Entscheidungen der Arbeitsgerichte in den Ausgangs­ver­fahren genügen den verfassungs­recht­lichen Anforderungen nicht; das Bundes­verfassungs­gericht hat sie aufgehoben und die Verfahren an die Landes­arbeits­gerichte zurückverwiesen.

Die Verfas­sungs­be­schwerden richten sich gegen von den Arbeits­ge­richten bestätigte Sanktionen wegen der Weigerung der Beschwer­de­füh­re­rinnen, im Schuldienst ein aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch beziehungsweise eine als Ersatz hierfür getragene Wollmütze abzulegen. Sie richten sich zugleich mittelbar gegen § 57 Abs. 4 und § 58 Satz 2 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 13. Juni 2006 (SchulG NW).

Politische, religiöse, weltan­schauliche oder ähnliche äußere Bekundungen für Lehrer unzulässig

Nach § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW dürfen Lehrerinnen und Lehrer in der Schule keine politischen, religiösen, weltan­schau­lichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltan­schau­lichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Nach Satz 2 ist insbesondere ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleich­be­rech­tigung, die Freiheits­grund­rechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Gemäß Satz 3 widerspricht die Wahrnehmung des Erzie­hungs­auftrags nach der Landes­ver­fassung und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Diese Regelungen gelten nach § 58 Satz 2 SchulG NW entsprechend für sonstige im Landesdienst stehende pädagogische und sozia­l­päd­ago­gische Mitar­bei­te­rinnen und Mitarbeiter.

Beschwer­de­führerin ersetz nach Verbot Kopftuch durch Baskenmütze

Beide Beschwer­de­füh­re­rinnen sind Musliminnen mit deutscher Staats­an­ge­hö­rigkeit. Die Beschwer­de­führerin des Verfahrens 1 BvR 471/10 ist seit 1997 als Sozialpädagogin in einer öffentlichen Gesamtschule des Landes Nordrhein-Westfalen angestellt. Einer Aufforderung der Schulbehörde, das Kopftuch während des Dienstes abzulegen, kam sie nach, ersetzte es aber durch eine rosafarbene handelsübliche Baskenmütze mit Strickbund und einen gleichfarbigen Rollkra­gen­pullover als Halsabdeckung. Die Schulbehörde erteilte ihr daraufhin eine Abmahnung. Die arbeits­ge­richtliche Klage hiergegen blieb in allen Instanzen erfolglos.

Beschwer­de­führerin verweigert Ablegen des Kopftuches

Die Beschwer­de­führerin des Verfahrens 1 BvR 1181/10 trat 2001 als angestellte Lehrerin in ein Arbeits­ver­hältnis mit dem Land Nordrhein-Westfalen ein. An mehreren Schulen erteilte sie mutter­sprach­lichen Unterricht in türkischer Sprache. Nachdem sich die Beschwer­de­führerin weigerte, das Kopftuch während des Dienstes abzulegen, sprach das Land zunächst eine Abmahnung und dann die Kündigung aus. Die dagegen gerichteten Klagen der Beschwer­de­führerin blieben vor den Arbeits­ge­richten ohne Erfolg.

Beschwerden im Wesentlichen begründet

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die zulässigen Verfas­sungs­be­schwerden im Wesentlichen begründet sind. § 57 Abs. 4 Satz 1 und 2 und § 58 Satz 2 SchulG NW sind in den Fällen religiöser Bekundungen durch das äußere Erschei­nungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen nur nach Maßgabe einer einschränkenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.

Selbst­ver­ständnis der betroffenen Religi­o­ns­ge­mein­schaften darf nicht außer Betracht bleiben

Das Grundrecht auf Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gewährleistet auch Lehrkräften in der öffentlichen bekennt­ni­soffenen Gemein­schafts­schule die Freiheit, einem aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsgebot zu genügen. Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion zu betrachten ist, darf das Selbst­ver­ständnis der jeweils betroffenen Religi­o­ns­ge­mein­schaften und des einzelnen Grund­recht­s­trägers nicht außer Betracht bleiben. Die staatlichen Organe dürfen jedoch prüfen und entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das Verhalten tatsächlich in plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt. Dies ist bei den Beschwer­de­füh­re­rinnen der Fall. Es kommt dabei nicht darauf an, dass der genaue Inhalt der Beklei­dungs­vor­schriften für Frauen unter islamischen Gelehrten durchaus umstritten ist und andere Richtungen des Islam ein als verpflichtend geltendes Bedeckungsgebot nicht kennen. Es genügt, dass diese Betrachtung unter den verschiedenen Richtungen des Islam verbreitet ist und insbesondere auf zwei Stellen im Koran zurückgeführt wird.

Verbot der Bedeckung im Schuldienst kann bei Betroffenen Zugang zum Beruf verhindern

Der Eingriff in die Glaubens­freiheit der Beschwer­de­füh­re­rinnen wiegt schwer. Sie berufen sich nicht nur auf eine religiöse Empfehlung. Vielmehr haben sie plausibel dargelegt, dass es sich für sie - entsprechend dem Selbst­ver­ständnis von Teilen im Islam - um ein imperatives religiöses Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit handelt, das zudem nachvollziehbar ihre persönliche Identität berührt (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), so dass ein Verbot dieser Bedeckung im Schuldienst für sie sogar den Zugang zum Beruf verstellen kann (Art. 12 Abs. 1 GG). Dass auf diese Weise derzeit faktisch vor allem muslimische Frauen von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten werden, steht zugleich in einem recht­fer­ti­gungs­be­dürftigen Spannungs­ver­hältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleich­be­rech­tigung von Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG).

Eingriff ist unver­hält­nismäßig

Dieser Eingriff ist unver­hält­nismäßig, wenn die Auslegung des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW durch die Arbeitsgerichte zugrunde gelegt wird, nach der eine bloß abstrakte Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität für die Untersagung genügt.

Verbot äußerer religiöser Bekundungen verfolgt legitime Ziele

Der nordrhein-westfälische Landes­schul­ge­setzgeber verfolgt mit dem Verbot äußerer religiöser Bekundungen in § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW legitime Ziele. Sein Anliegen ist es, den Schulfrieden und die staatliche Neutralität zu wahren, so den staatlichen Erzie­hungs­auftrag abzusichern, gegenläufige Grundrechte von Schülern und Eltern zu schützen und damit Konflikten von vornherein vorzubeugen.

Grenze der Zumutbarkeit muss beachten werden

Für die Beurteilung der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen verfügt der Gesetzgeber zwar über eine Einschät­zungs­prä­ro­gative. Allerdings muss er ein angemessenes Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts des pädagogischen Personals auf Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit ebenso wahren wie er bei einer Gesamtabwägung die Grenze der Zumutbarkeit beachten muss.

Bekennt­ni­soffenen Gemein­schafts­schule spiegelt religiös-pluralistische Gesellschaft wider

Das Tragen einer religiös konnotierten Bekleidung ist nicht von vornherein dazu angetan, die negative Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit der Schülerinnen und Schüler (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) zu beeinträchtigen. Solange die Lehrkräfte nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die Schülerinnen und Schüler über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen, werden diese lediglich mit der ausgeübten positiven Glaubens­freiheit der Lehrkräfte konfrontiert, was im Übrigen durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen wird. Insofern spiegelt sich in der bekennt­ni­soffenen Gemein­schafts­schule die religiös-pluralistische Gesellschaft wider.

Tragen eines islamischen Kopftuchs steht staatlichem Erzie­hungs­auftrag nicht generell entgegen

Aus dem Eltern­grundrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) ergibt sich nichts anderes. Ein etwaiger Anspruch, die Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen, lässt sich hieraus nicht herleiten. Darüber hinaus steht auch der staatliche Erzie­hungs­auftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, der Ausübung der positiven Glaubens­freiheit der Pädagoginnen durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs nicht generell entgegen. Er vermag ein Verbot solchen äußeren Verhaltens, das auf ein nachvollziehbar als imperativ verstandenes Glaubensgebot zurückgeht, erst dann zu rechtfertigen, wenn eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität feststellbar ist.

Weltanschaulich-religiöse Neutralität ist nicht als strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen

Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubens­freiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Dies gilt auch für den vom Staat in Vorsorge genommenen Bereich der Schule. Die bloße Sichtbarkeit religiöser oder weltan­schau­licher Zugehörigkeit einzelner Lehrkräfte wird durch die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates nicht ohne Weiteres ausgeschlossen.

Verbot äußerer religiösen Bekundung verdrängt im vorliegenden Fall in unangemessener Weise das Grundrecht auf Glaubens­freiheit

Das strikte und landesweite Verbot einer äußeren religiösen Bekundung, das bloß an eine abstrakte Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität anknüpft, ist jedenfalls für die hier gegebenen Fallkon­stel­la­tionen den betroffenen Grund­recht­s­trä­ge­rinnen nicht zumutbar und verdrängt in unangemessener Weise deren Grundrecht auf Glaubens­freiheit. Denn mit dem Tragen eines Kopftuchs durch einzelne Pädagoginnen ist - anders als dies beim staatlich verantworteten Kreuz oder Kruzifix im Schulzimmer der Fall ist - keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben verbunden. Hinzu kommt, dass die Beschwer­de­füh­re­rinnen einem nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen Glaubensgebot Folge leisten. Dadurch erhält ihre Glaubens­freiheit in der Abwägung ein erheblich größeres Gewicht als dies bei einer disponiblen Glaubensregel der Fall wäre.

Äußeres Erschei­nungsbild von Lehrkräften darf nicht zu konkreter Gefährdung oder Störung des Schulfriedens beitragen

Anders verhält es sich dann, wenn das äußere Erschei­nungsbild von Lehrkräften zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führt oder wesentlich dazu beiträgt. Dann wäre es ihnen zumutbar, von der Befolgung eines nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen religiösen Bedeckungs­gebots Abstand zu nehmen. Darüber hinaus kann ein verfas­sungs­rechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, äußere religiöse Bekundungen über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden, wenn in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht wird. Zunächst wird dann jedoch eine anderweitige pädagogische Verwen­dungs­mög­lichkeit der Betroffenen in Betracht zu ziehen sein.

Tragen eines islamischen Kopftuchs allein begründet keine konkrete Gefahr für staatliche Neutralität oder Schulfrieden

Solange der Gesetzgeber dazu aber keine diffe­ren­ziertere Regelung trifft, kann eine Verdrängung der Glaubens­freiheit von Lehrkräften nur dann als angemessener Ausgleich der in Rede stehenden Verfas­sungsgüter in Betracht kommen, wenn wenigstens eine hinreichend konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden belegbar ist. Das gilt zumal vor dem Hintergrund, dass es gerade die Aufgabe namentlich der als „bekenntnisoffen“ bezeichneten Gemein­schafts­schule ist, den Schülerinnen und Schülern Toleranz auch gegenüber anderen Religionen und Weltan­schauungen zu vermitteln. Dieses Ideal muss gelebt werden dürfen, auch durch das Tragen von Bekleidung, die mit Religionen in Verbindung gebracht wird, wie neben dem Kopftuch etwa die jüdische Kippa, das Nonnen-Habit oder auch Symbole, wie das sichtbar getragene Kreuz. Allein das Tragen eines islamischen Kopftuchs begründet eine solche hinreichend konkrete Gefahr im Regelfall nicht. Vom Tragen eines islamischen Kopftuchs geht für sich genommen noch kein werbender oder gar missionierender Effekt aus. Auch wenn es von der Mehrheit muslimischer Frauen nicht getragen wird, ist ein islamisches Kopftuch in Deutschland nicht unüblich. Seine bloß visuelle Wahrnehmbarkeit ist in der Schule als Folge individueller Grund­rechts­wahr­nehmung ebenso hinzunehmen, wie auch sonst grundsätzlich kein verfas­sungs­recht­licher Anspruch darauf besteht, von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltan­schau­licher Bekenntnisse verschont zu bleiben.

Tragen des Kopftuchs als strikte Beachtung von Glaubensregeln kann nicht als zwingende Distanzierung von verfas­sungs­recht­lichen Grundsätzen interpretiert werden

Diese Ausle­gungs­maßgaben gelten entsprechend für § 57 Abs. 4 Satz 2 SchulG NW. Mit Rücksicht auf die grund­recht­lichen Gewähr­leis­tungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist die Annahme verfehlt, schon das Tragen eines islamischen Kopftuchs oder einer anderen, auf eine Glaubens­zu­ge­hö­rigkeit hindeutenden Kopfbedeckung sei schon für sich genommen ein Verhalten, das gemäß § 57 Abs. 4 Satz 2 SchulG NW bei den Schülern oder den Eltern ohne Weiteres den Eindruck hervorrufen könne, dass die Person, die es trägt, gegen die Menschenwürde, die Gleich­be­rech­tigung nach Art. 3 GG, die Freiheits­grund­rechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftrete. Diese pauschale Schluss­fol­gerung verbietet sich. Wenn das Tragen des Kopftuchs etwa als Ausdruck einer individuellen Kleidungs­ent­scheidung, von Tradition oder Identität erscheint, oder die Trägerin als Muslimin ausweist, die die Regeln ihres Glaubens, insbesondere das von ihr als verpflichtend verstandene Bedeckungsgebot, strikt beachtet, lässt sich das ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht als Distanzierung von den in § 57 Abs. 4 Satz 2 SchulG NW genannten verfas­sungs­recht­lichen Grundsätzen interpretieren. Auch den Glaubens­rich­tungen des Islam, die das Tragen des Kopftuchs zur Erfüllung des Bedeckungs­gebots verlangen, aber auch genügen lassen, kann nicht unterstellt werden, dass sie von den Gläubigen ein Auftreten gegen die Menschenwürde, die Gleich­be­rech­tigung nach Art. 3 GG, die Freiheits­grund­rechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung fordern, erwarten oder auch nur erhoffen.

Entscheidungen der Fachgerichte verletzen Beschwer­de­füh­re­rinnen in ihren Grundrechten

Die angegriffenen Entscheidungen der Fachgerichte, namentlich die des Bundes­a­r­beits­ge­richts, werden der gebotenen verfas­sungs­kon­formen einschränkenden Auslegung nicht gerecht. Sie verletzen die Beschwer­de­füh­re­rinnen daher in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, der vom Gesetzgeber als Privi­le­gie­rungs­be­stimmung zu Gunsten der Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen gewollt ist, stellt eine gleich­heits­widrige Benachteiligung der Angehörigen anderer Religionen aus Gründen des Glaubens und der religiösen Anschauungen dar (Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG).

Ungleich­be­handlung verfas­sungs­rechtlich nicht zu rechtfertigen

Die Gesamt­kon­zeption des § 57 Abs. 4 SchulG NW sollte nach den Vorstellungen, die im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren hervorgetreten sind, in Satz 3 der Regelung eine Freistellung vom Verbot äußerer religiöser Bekundungen des Satzes 1 und damit eine unmittelbare Ungleich­be­handlung aus Gründen der Religion bewirken. Eine solche Ungleich­be­handlung ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu rechtfertigen. Werden äußere religiöse Bekundungen durch das pädagogische Personal in der Schule untersagt, so muss dies grundsätzlich unterschiedslos geschehen.

Pauschale Schluss­fol­gerung hinsichtlich rechtlicher Ungleich­be­handlung von Mann und Frau durch das Tragen eines Kopftuches unzulässig

Tragfähige Gründe für eine Benachteiligung äußerer religiöser Bekundungen, die sich nicht auf christlich-abendländische Kulturwerte und Traditionen zurückführen lassen, sind nicht erkennbar. Wenn vereinzelt geltend gemacht wird, im Tragen eines islamischen Kopftuchs sei vom objektiven Betracht­er­ho­rizont her ein Zeichen für die Befürwortung einer umfassenden auch rechtlichen Ungleich­be­handlung von Mann und Frau zu sehen und deshalb stelle es auch die Eignung der Trägerin für pädagogische Berufe infrage, so verbietet sich eine derart pauschale Schluss­fol­gerung. Ein solcher vermeintlicher Recht­fer­ti­gungsgrund muss darüber hinaus schon daran scheitern, dass er bei genera­li­sie­render Betrachtung keineswegs für alle nicht-christlich-abendländischen Kulturwerte und Traditionen einen Diffe­ren­zie­rungsgrund anbieten kann.

Ebenso wenig ergeben sich für eine Bevorzugung christlich und jüdisch verankerter religiöser Bekundungen tragfähige Recht­fer­ti­gungs­mög­lich­keiten. Die Wahrnehmung des Erzie­hungs­auf­trages rechtfertigt es nicht, Amtsträger einer bestimmten Religionszugehörigkeit bei der Statuierung von Dienstpflichten zu bevorzugen. Soweit den landes­ver­fas­sungs­recht­lichen Bestimmungen ein christlicher Bezug des staatlichen Schulwesens entnommen werden kann, soll sich dies auf säkularisierte Werte des Christentums beziehen.

BVerfG weist Auslegungen des Bundes­a­r­beits­ge­richts zurück

Eine verfas­sungs­konforme einschränkende Auslegung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, wie sie das Bundes­a­r­beits­gericht seinen Entscheidungen zu Grunde gelegt hat, ist nicht möglich. Das Bundes­a­r­beits­gericht hat unter anderem darauf abgestellt, dass die „Darstellung“ christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte im Sinne des Satzes 3 nicht gleichzusetzen sei mit der „Bekundung“ eines individuellen Bekenntnisses im Sinne des Satzes 1. Zudem bezeichne der Begriff des „Christlichen“ eine von Glaubens­in­halten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt. Eine solche Auslegung überschreitet jedoch die Grenzen verfas­sungs­kon­former Normin­ter­pre­tation und ist mit der richterlichen Gesetzesbindung nicht vereinbar (Art. 20 Abs. 3 GG). Ihr steht der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers entgegen. Dieser Wille hat sich nicht durch die vor Abschluss des Gesetz­ge­bungs­ver­fahrens erfolgte Erörterung der Möglichkeit einer einschränkenden Auslegung verändert; diese lässt lediglich erkennen, dass der Landtag sich des verfas­sungs­recht­lichen Risikos bewusst war.

In der vom Bundes­a­r­beits­gericht gewählten Auslegung kommt der Regelung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW allenfalls noch klarstellende Funktion zu. Dessen ungeachtet bleibt bei dieser Auslegung aber eine Norm in Kraft, die bei einem ihrem Wortlaut nach möglichen weiteren Verständnis als Öffnung für eine diskri­mi­nierende Verwal­tung­s­praxis verstanden werden könnte und deren diesbezügliche Unschärfe im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren bewusst hingenommen wurde. § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, auf dem die angegriffenen Entscheidungen ebenfalls beruhen, ist hiernach für mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG unvereinbar und nichtig zu erklären.

Abweichende Meinung des Richters Schluckebier und der Richterin Hermanns

Die vom Senat geforderte einschränkende Auslegung des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW ist verfas­sungs­rechtlich nicht geboten. Sie misst der Bedeutung des staatlichen Erzie­hungs­auftrags, der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, sowie dem Schutz des elterlichen Erzie­hungs­rechts und der negativen Glaubens­freiheit der Schüler im Verhältnis zur Glaubens­freiheit der Pädagogen zu geringes Gewicht bei. Der Senat beschneidet in nicht akzeptabler Weise den Spielraum des Landes­schul­ge­setz­gebers bei der Ausgestaltung des multipolaren Grund­rechts­ver­hält­nisses, das gerade die bekennt­ni­soffene öffentliche Schule besonders kennzeichnet.

Der Senat entfernt sich von den Maßgaben und Hinweisen der sogenannten Kopftuch-Entscheidung des Zweiten Senats vom 24. September 2003 (BVerfGE 108, 282), die dem Landes­schul­ge­setzgeber gerade für den Bereich der öffentlichen Schule die Aufgabe zuschreibt, gesetzlich zu regeln, inwieweit er religiöse Bezüge in der Schule zulässt oder wegen eines strikteren Neutra­li­täts­ver­ständ­nisses aus der Schule heraushält. Die Gestal­tungs­freiheit des Landes­ge­setz­gebers schließt die Möglichkeit ein, auch durch das äußere Erschei­nungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden. Diese Maßgaben, die der Schul­ge­setzgeber in Nordrhein-Westfalen wie auch in anderen Ländern zum Anlass für eine entsprechende gesetzliche Regelung genommen hat, wären der verfas­sungs­recht­lichen Beurteilung auch im Interesse einer berechenbaren Verfas­sungs­recht­sprechung zugrunde zu legen gewesen.

Der Landes­schul­ge­setzgeber kann gute und tragfähige Gründe für sich in Anspruch nehmen, die schon die abstrakte Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität für das in Rede stehende generelle Verbot religiöser Bekundungen auch durch das äußere Erschei­nungsbild genügen lassen. Auch eine solche Lösung für die Umsetzung des vom Gesetzgeber verfolgten legitimen Ziels ist als angemessen und zumutbar zu beurteilen.

Die Bewertung des Senats, das Tragen religiös konnotierter Bekleidung durch Pädagoginnen und Pädagogen beeinträchtige die negative Glaubens­freiheit von Schülerinnen und Schülern sowie das Eltern­grundrecht nicht, halten wir für nicht reali­täts­gerecht. Sie vernachlässigt, dass das Schüler-Pädagogen-Verhältnis ein spezifisches Abhän­gig­keits­ver­hältnis ist, dem Schüler und Eltern unausweichlich und nicht nur flüchtig ausgesetzt sind. Aufgabe der Lehrpersonen ist es unter anderem, die Schüler zu erziehen und zu beurteilen (§ 57 Abs. 1 SchulG NW). Dies bedingt ein weitaus stärkeres Ausgesetztsein gegenüber religiösen Bekundungen als es bei Begegnungen im gesell­schaft­lichen Alltag der Fall ist. Den Pädagogen kommt in der Schule im Umgang mit den Schülern zudem eine Vorbildfunktion zu. Deren Verhalten, auch die Befolgung bestimmter religiöser Beklei­dungs­regeln, trifft auf Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind. Eine wirklich offene Diskussion über die Befolgung religiöser Beklei­dungs­regeln wird, wenn Lehrpersonen persönlich betroffen sind, in dem spezifischen Abhän­gig­keits­ver­hältnis der Schule allenfalls begrenzt möglich sein. Schließlich kann das Tragen religiös konnotierter Kleidung durch Pädagogen zu Konflikten innerhalb der Schülerschaft und unter den Eltern führen und sie befördern.

Die Pädagogen genießen zwar ihre individuelle Glaubens­freiheit. Zugleich sind sie aber Amtsträger und damit der fördernden Neutralität des Staates auch in religiöser Hinsicht verpflichtet. Denn der Staat kann nicht als anonymes Wesen, sondern nur durch seine Amtsträger und seine Pädagogen handeln. Die Verpflichtung des Staates auf die Neutralität kann deshalb keine andere sein als die einer Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität.

Der Gesetzgeber konnte sich bei seiner Entschließung für ein weitgehend schon vorbeugendes Verbot auch auf die Einschätzung sachkundiger Pädagogen bei den Anhörungen in verschiedenen Landtagen stützen. Die Stellungnahmen verdeutlichen die Bedeutung eines generellen, etwa auch landesweiten und -einheitlichen Verbots religiöser Bekundungen schon bei abstrakter Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität. Zudem liegt auf der Hand, dass mit einer Einschränkung auf eine hinreichend konkrete Gefahr in der Schulpraxis in stärkerem Maße Befunderhebungs- und Beweis­füh­rungs­probleme erwachsen. Diese sind von der Schulverwaltung notwendig unter Beteiligung der Schüler und Eltern auszutragen und verstärken eine dem Erzie­hungs­auftrag eher abträgliche Perso­na­li­sierung des etwaigen Konflikts.

Eine Bewertung, die allein darauf abstellt, dass der Staat eine ihm unmittelbar nicht zuzurechnende individuelle Grund­rechts­ausübung seiner Pädagogen nur dulde und die Schüler lediglich eine bestimmte Bekleidung der Pädagogen anzuschauen hätten, die erkennbar auf deren individuelle Entscheidung zurück gehe, greift zu kurz. Eine solche vereinfachende Differenzierung zwischen dem Staat zurechenbaren Symbolen und individueller religiös konnotierter Bekleidung von Pädagogen blendet die Wirkung aus, die auch die individuelle Grund­rechts­ausübung einer Lehrperson auf Schüler haben kann.

Zusammengefasst ist nach unserem Dafürhalten die Untersagung religiöser Bekundungen durch das äußere Erschei­nungsbild von Pädagogen schon bei einer abstrakten Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität verfas­sungs­rechtlich unbedenklich. Mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist einschränkend allerdings zu verlangen, dass es sich um eine religiös konnotierte Kleidung von starker Ausdruckskraft handeln muss. Es steht dem Landes­schul­ge­setzgeber von Verfassungs wegen jedoch auch offen, religiöse Bezüge in weitem Maße zuzulassen, etwa wenn er dies im Interesse einer Erziehung zu Toleranz und Verständnis für angemessen erachtet. Verpflichtet ist er dazu von Verfassungs wegen indessen nicht.

Das vom Bundes­a­r­beits­gericht zugrunde gelegte Normverständnis des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, wonach die Wahrnehmung des Erzie­hungs­auftrags der Schule nach der nordrhein-westfälischen Landes­ver­fassung und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen dem Verhaltensgebot nach Satz 1 nicht widerspricht, wahrt die Grenzen richterlicher Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) und ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Dem Senat ist darin zuzustimmen, dass ein Verständnis des Satzes 3 von § 57 Abs. 4 SchulG NW im Sinne einer echten Freistellungs- und Privi­le­gie­rungs­klausel zum Bekun­dungs­verbot des Satzes 1 wegen Verstoßes gegen das Gleich­be­hand­lungsgebot verfas­sungs­widrig wäre. Die vom Bundes­a­r­beits­gericht gefundene Auslegung vermeidet ein solches Ergebnis jedoch. Sie steht mit dem Wortlaut des Gesetzes in Einklang, widerspricht keineswegs dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers und bestimmt auch den normativen Gehalt der Regelung nicht grundlegend neu. Es trifft zwar zu, dass die Geset­ze­s­i­n­i­ti­atoren mit Satz 3 der Vorschrift zunächst die Vorstellung verbanden, anders als das islamische Kopftuch etwa könnten bestimmte traditionelle, im christlichen oder jüdischen Glauben wurzelnde Beklei­dungs­formen zugelassen werden. Diese Ursprungs­vor­stel­lungen haben im weiteren Verlauf des von vielfältigen Einflüssen bestimmten Gesetz­ge­bungs­ver­fahrens jedoch einen Wandel erfahren. Zudem hat der Landtag das Gesetz in Ansehung der einschränkenden Auslegung beschlossen, die das Bundes­ver­wal­tungs­gericht schon damals zu einer identischen Regelung vorgenommen hatte und der sich das Bundes­a­r­beits­gericht in den angegriffenen Entscheidungen angeschlossen hat.

Auch nach unserer Auffassung wäre die Verfas­sungs­be­schwerde der Beschwer­de­führerin des Verfahrens 1 BvR 471/10 im Ergebnis für begründet zu erachten gewesen. Die von ihr getragene Bedeckung, eine Wollmütze und ein gleichfarbiger Rollkra­gen­pullover, ist nicht aus sich heraus religiös konnotiert und wird auch im gegebenen Umfeld der Schule nicht ohne Weiteres als religiöse Bekundung von starker Ausdruckskraft deutbar sein. Die Verfas­sungs­be­schwerde der Beschwer­de­führerin des Verfahrens 1 BvR 1181/10 erscheint dagegen nach den vorgenannten Maßstäben unbegründet.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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