18.10.2024
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Dokument-Nr. 14010

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Urteil21.08.2012BundesgerichtshofX ZR 138/11 und X ZR 146/11
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • MDR 2012, 1285Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 2012, Seite: 1285
  • NJW 2013, 374Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2013, Seite: 374
  • VersR 2013, 334Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht (VersR), Jahrgang: 2013, Seite: 334
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Vorinstanzen zu X ZR 138/11:
  • Amtsgericht Köln, Urteil25.10.2010, 142 C 153/10
  • Landgericht Köln, Urteil27.10.2011, 6 S 282/10
Vorinstanzen zu X ZR 146/11:
  • Amtsgericht Frankfurt am Main, Urteil24.03.2011, 32 C 2262/10-41
  • Landgericht Frankfurt am Main, Urteil08.11.2011, 2-24 S 80/11
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil21.08.2012

Angekündigte Pilotenstreiks durch Vereinigung Cockpit: Reisende erhalten keine Ausgleichs­zahlung nach der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung für Flugan­nul­lierungStreik stellt "außer­ge­wöhnliche Maßnahme" gemäß Flugga­st­rech­te­ver­ordnung dar, die Pflicht zur Ausgleichs­zahlung ausschließt

Fluggäste haben im Regelfall keinen Anspruch auf Ausgleichs­zahlung nach der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung nach einer Flugan­nul­lierung aufgrund von Pilotenstreiks. Ein Streikaufruf einer Gewerkschaft wirkt "von außen" auf das Luftver­kehrs­un­ter­nehmen ein und ist in aller Regel von dem betroffenen Luftver­kehrs­un­ter­nehmen nicht beherrschbar. Eine Pflicht zur Ausgleichs­zahlung ist daher nicht gegeben. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs hervor.

Die Kläger der beiden zugrunde liegenden Verfahren verlangen Ausgleichs­zah­lungen nach Art. 7 Abs. 1c, Art. 5 Abs. 1c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004* (nachfolgend: Flugga­st­rech­te­ver­ordnung), weil ihre für Februar 2010 vorgesehenen Flüge von Miami nach Deutschland von der beklagten Lufthansa AG wegen eines Streikaufrufs der Vereinigung Cockpit annulliert worden waren. In der Sache X ZR 138/11 wurde der für den 22. Februar 2010 vorgesehene Rückflug nach Düsseldorf annulliert und die Reisenden wurden auf einen anderen Rückflug umgebucht, mit dem sie am 25. Februar 2010 in Düsseldorf eintrafen. In der Sache X ZR 146/11 wurde der für den 23. Februar 2010 vorgesehene Rückflug nach Frankfurt am Main annulliert die Reisenden wurden auf einen Flug am 1. März 2010 umgebucht. In beiden Fällen geht es nicht um die Unter­stüt­zungs­leis­tungen (Mahlzeiten, Hotel­un­ter­bringung), die das Luftver­kehrs­un­ter­nehmen bei Annullierung eines Flugs anbieten muss, sondern - jedenfalls in der Revisi­ons­instanz - ausschließlich um die Frage, ob Lufthansa auch die pauschale Ausgleichsleistung in Höhe von 600 Euro je Fluggast zu zahlen hat, die die Flugga­st­rech­te­ver­ordnung grundsätzlich vorsieht, wenn ein Inter­kon­ti­nen­talflug annulliert wird.

Lufthansa sieht sich wegen "außer­ge­wöhn­licher Umstände" von der Pflicht zu Ausgleichs­zah­lungen nach der Verordnung befreit

Nach Art. 5 Abs. 3 der Flugga­st­rech­te­ver­ord­nung** entfällt diese Verpflichtung, wenn eine Annullierung auf "außer­ge­wöhnliche Umstände" zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Lufthansa hat geltend gemacht, von der Pflicht zu Ausgleichs­zah­lungen nach der Verordnung befreit zu sein, weil es sich bei dem Streik ihrer Piloten um ein außer­ge­wöhn­liches und für sie unabwendbares Ereignis gehandelt habe und sie alle zumutbaren Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl der annullierten Flüge ergriffen habe.

Entscheidungen der Vorinstanzen

Die in erster Instanz zuständigen Amtsgerichte haben Lufthansa in beiden Fällen zur Leistung der Ausgleichs­zah­lungen verurteilt. Im Verfahren X ZR 138/11 hat das Landgericht Köln die Berufung zurückgewiesen, weil ein Streik eigener Mitarbeiter des ausführenden Luftfahrt­un­ter­nehmens kein außer­ge­wöhn­liches Ereignis im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung darstelle. Dagegen hat im Verfahren X ZR 146/11 das Landgericht Frankfurt am Main auf die Berufung das erstin­sta­nzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Ein Streik, auch derjenige des eigenen Personals des Luftver­kehrs­un­ter­nehmens stelle ein unabwendbares Ereignis im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung dar. Lufthansa habe die Annullierung des Rückfluges auch nicht durch zumutbare Maßnahmen vermeiden können. Insbesondere sei sie nicht verpflichtet gewesen, andere Piloten zur Aushilfe anzustellen.

Streik als Arbeits­kampf­mittel ist in aller Regel von betroffenem Luftver­kehrs­un­ter­nehmen nicht beherrschbar

Der Bundes­ge­richtshof hat nunmehr entschieden, dass außer­ge­wöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung anzunehmen sein können, wenn der Flugplan eines Luftver­kehrs­un­ter­nehmens infolge eines Streiks ganz oder zu wesentlichen Teilen nicht wie geplant durchgeführt werden kann. Dies ergibt sich aus Wortlaut und Zweck des Art. 5 Abs. 3 der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung und steht im Einklang mit der Auslegung dieser Vorschrift durch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). Die vom EuGH für technische Defekte entwickelten Maßstäbe sind auch für andere als Ursache außer­ge­wöhn­licher Umstände in Betracht kommende Vorkommnisse, wie etwa die in Erwägungsgrund 14*** der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung genannten, heranzuziehen. Auch insoweit ist maßgeblich, ob die Annullierung auf ungewöhnliche, außerhalb des Rahmens der normalen Betrie­b­s­tä­tigkeit des Luftver­kehrs­un­ter­nehmens liegende und von ihm nicht zu beherrschende Gegebenheiten zurückgeht. Dabei spielt es bei einem Streik, der in Erwägungsgrund 14 ausdrücklich als Ursache außer­ge­wöhn­licher Umstände genannt ist, grundsätzlich keine Rolle, ob der Betrieb des Unternehmens durch eine Tarif­aus­ein­an­der­setzung zwischen Dritten (z.B. beim Flugha­fen­be­treiber oder einem mit der Sicher­heits­kon­trolle betrauten Unternehmen) oder dadurch beeinträchtigt wird, dass eigene Mitarbeiter des Luftver­kehrs­un­ter­nehmens in den Ausstand treten. Ein Streikaufruf einer Gewerkschaft wirkt - auch soweit er zu einem Ausstand der eigenen Beschäftigten führt - "von außen" auf das Luftver­kehrs­un­ter­nehmen ein und ist nicht Teil der normalen Ausübung seiner Tätigkeit, die durch den Streik als Arbeits­kampf­mittel gerade gezielt beeinträchtigt oder gar lahm gelegt werden soll. Eine solche Situation ist in aller Regel von dem betroffenen Luftver­kehrs­un­ter­nehmen auch nicht beherrschbar, da die Entscheidung zu streiken, von der Arbeit­neh­merseite im Rahmen der ihr zukommenden Tarifautonomie und damit außerhalb des Betriebs des ausführenden Luftver­kehrs­un­ter­nehmens getroffen wird.

Reorganisation des Flugplans seitens Lufthansa zur Verringerung der Beein­träch­ti­gungen der Fluggäste gerechtfertigt

In den entschiedenen Fällen war dementsprechend die Strei­k­an­kün­digung der Vereinigung Cockpit geeignet, außer­ge­wöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung herbeizuführen. Lufthansa hatte, nachdem zu erwarten war, dass die überwiegende Zahl der angesprochenen Mitarbeiter dem Streikaufruf nachkommen und somit keine zur Einhaltung des gesamten Flugplans ausreichende Anzahl von Piloten zur Verfügung stehen würde, Anlass, den Flugplan so zu reorganisieren, dass zum einen die Beein­träch­ti­gungen der Fluggäste durch den Streik so gering wie unter den gegebenen Umständen möglich ausfallen würden und sie zum anderen in der Lage sein würde, nach Beendigung des Streiks sobald wie möglich zum Normalbetrieb zurückzukehren. Schöpft ein Luftver­kehrs­un­ter­nehmen unter Einhaltung dieser Anforderungen die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen in dem gebotenen Umfang aus, kann die Nicht­durch­führung eines einzelnen Flugs in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert werden können.

Absage des Fluges der Kläger war nicht vermeidbar

Danach hat der Bundes­ge­richtshof im Verfahren X ZR 146/11 die Revision der Kläger zurückgewiesen, weil das Landgericht Frankfurt festgestellt hat, dass Lufthansa mit einem Sonderflugplan geeignete und zumutbare Maßnahmen ergriffen hatte, um Annullierungen infolge des Streiks auf das unvermeidbare Maß zu beschränken, und daher rechts­feh­lerfrei angenommen hat, dass die Absage des Fluges der Kläger nicht zu vermeiden war. Im Verfahren X ZR 138/11 konnte der Bundes­ge­richtshof dagegen nicht abschließend über die geltend gemachten Ausgleichs­ansprüche entscheiden, da vom Landgericht Köln Feststellungen zu den von Lufthansa ergriffenen Maßnahmen noch zu treffen sind.

*Art. 7 der Verordnung: "Ausgleichs­an­spruch"

Erläuterungen
(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichs­zah­lungen in folgender Höhe:

c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

**Art. 5 der Verordnung: "Annullierung"

(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen …

c) vom ausführenden Luftfahrt­un­ter­nehmen ein Anspruch auf Ausgleichs­leis­tungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …

(3) Ein ausführendes Luftfahrt­un­ter­nehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichs­zah­lungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außer­ge­wöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

***Er­wä­gungsgrund 14 der Verordnung:

Wie nach dem Übereinkommen von Montreal sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrt­un­ter­nehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außer­ge­wöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetter­be­din­gungen, Sicher­heits­risiken, unerwarteten Flugsi­cher­heits­mängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrt­un­ter­nehmens beein­träch­ti­genden Streiks eintreten.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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