18.10.2024
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Sie sehen die Außenfassade einer Niederlassung des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit dem Bundesadler und passendem Schriftzug der Behörde.
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Verwaltungsgericht Stuttgart Beschluss02.07.2012

Drohende menschen­un­würdige Behandlung: Asylbewerber darf nicht nach Italien überstellt werdenAsylverfahren und Aufnah­me­be­din­gungen für Asylbewerber in Italien weisen systemische Mängel auf

Die Bundesrepublik Deutschland ist dazu verpflichtet, Antragsteller, die über Italien nach Deutschland gekommen sind, nicht zurück nach Italien zu überstellen, wenn ihnen dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnah­me­be­din­gungen die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht. Dies entschied das Verwal­tungs­gericht Stuttgart und verpflichtete die – vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vertretene – Bundesrepublik darüber hinaus dazu, das Asylverfahren der Antragsteller in Deutschland fortzusetzen.

Nach der Dublin-II-Verordnung ist für jeden in der Europäischen Union eingereichten Asylantrag grundsätzlich nur ein Mitgliedsstaat zuständig. Wenn ein Dritt­staats­an­ge­höriger in einem Mitgliedsstaat Asyl beantragt, der nach der Verordnung nicht zuständig ist, ist ein Verfahren für die "Überstellung" des Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedsstaat vorgesehen.

Antragsteller wehren sich gegen Rückführung nach Italien

In dem beim Verwal­tungs­gericht anhängigen Verfahren wehrten sich ein staatenloses paläs­ti­nen­sisches Ehepaar aus Syrien und seine drei (kleinen) Kinder gegen eine Rückführung aus Deutschland nach Italien. Sie hatten Syrien im April 2011 verlassen und waren über Griechenland zunächst nach Italien gekommen; Asyl beantragten sie dort nicht. Es gelang ihnen, nach Deutschland zu kommen, wo sie umgehend einen Asylantrag stellten. Nach der Dublin-II-Verordnung war damit Italien für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig. Den Antragstellern wurde daher mitgeteilt, dass sie dorthin überstellt würden. Hiergegen wehrten sie sich und machten geltend, sie seien in Italien nach einer erken­nungs­dienst­lichen Behandlung aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Zudem habe man sie in eine Unterkunft eingewiesen, wo sie weder Bett noch Decken erhalten hätten. Sie seien zusammen mit einer weiteren Familie in einem kleinen Zimmer untergebracht gewesen. Es habe auch nur einmal am Tag eine Mahlzeit gegeben.

Mängel italienischer Asylverfahren lassen unmenschliche oder erniedrigende Behandlung überstellter Asylbewerber befürchten

In seinem Beschluss führte das Verwal­tungs­gericht Stuttgart aus, dass die Antragsteller voraussichtlich bei einer Rückführung nach Italien einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt seien. Italien sei zwar als Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ein sicherer Drittstaat und habe als solcher die Verpflichtungen nach der Genfer Flücht­lings­kon­vention, der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention sowie der Charta der Grundrechte der europäischen Union anerkannt. Angesichts der aktuellen Situation von Flüchtlingen in Italien bestünden aber Anhaltspunkte dafür, dass Italien seine Verpflichtungen derzeit nicht erfülle. Das Asylverfahren und die Aufnah­me­be­din­gungen für Asylbewerber in Italien wiesen systemische Mängel auf, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber befürchten lasse.

Aufnah­me­ka­pa­zitäten für Flüchtlinge in Italien völlig überlastet

Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen ergebe sich, dass die Aufnah­me­ka­pa­zitäten für Flüchtlinge in Italien völlig überlastet seien. Landesweit bestünden nur 3.000 Plätze in den Zentren für Asylsuchende des SPRAR-Systems (Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge). In Italien seien aber im Jahr 2009 17.603 und im Jahr 2008 31.000 Asylsuchende verzeichnet worden. Die große Mehrheit der Asylsuchenden sei damit ungeschützt, ohne Obdach, Integra­ti­o­nshilfe und gesicherten Zugang zu Nahrung, Wasser und Elektrizität; auch die Gesund­heits­ver­sorgung sei nicht ausreichend sichergestellt. Die Betroffenen übernachteten in Parks, leer stehenden Häusern und überlebten nur dank der Hilfe karitativer Organisationen. Angesichts der zu erwartenden weiteren Flücht­lings­ströme von Afrika nach Italien werde sich die Entwicklung in Italien in absehbarer Zeit voraussichtlich nicht verbessern, sondern eher noch verschlechtern. Nach dieser Sachlage wären die Antragsteller bei einer Rückführung nach Italien gezwungen, ein Leben unterhalb des Existenz­mi­nimums zu führen und seien auch von Obdachlosigkeit bedroht.

Quelle: Verwaltungsgericht Stuttgart/ra-online

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