21.11.2024
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Verwaltungsgericht Darmstadt Urteil17.12.2014

Systematische Mängel beim Asyl- und Aufnah­me­ver­fahren: Rückführung eines Asylbewerbers nach Italien rechtswidrigZuständig­keits­bestimmungen finden bei Wahrschein­lichkeit einer menschen­un­würdigen Behandlung im eigentlich zuständigen Mitgliedsstaat keine Anwendung

Das Verwal­tungs­gericht Darmstadt hat die Rückführung eines Asylbewerbers nach Italien für rechtswidrig erklärt, da dem Bewerber im Falle einer Rückführung nach Italien die konkrete Gefahr einer menschen­un­würdigen Behandlung aufgrund von Obdachlosigkeit und einer mangelnden Grundversorgung drohen würde.

Der Asylbewerber des zugrunde liegenden Verfahrens war im Januar 2011 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er unter Berufung auf seine Desertion vom Militärdienst Asyl beantragte. Vor seiner Einreise in die Bundesrepublik hatte er bereits in Italien einen Asylantrag gestellt, im Rahmen dessen ihm auch ein sogenannter "subsidiärer Schutzstatus" zuerkannt wurde. Im Hinblick darauf erklärte das BAMF den Asylantrag in Deutschland für unzulässig, mit der Begründung, Italien sei nach den europa­recht­lichen Vorgaben aufgrund des dort bereits durchlaufenen Asylverfahrens und des erteilten Aufent­halt­s­titels auch für die Bearbeitung des neuen Asylantrags zuständig. Hiergegen erhob der Kläger Klage und stellte zugleich einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, dem das Gericht mit Beschluss vom 16. November 2011 stattgegeben hatte.

Zustän­dig­keits­be­stim­mungen der sogenannten Dublin II- bzw. Dublin III-Verordnung findet keine Anwendung

Das Verwal­tungs­gericht Darmstadt führte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts in seinem jetzigen Urteil aus, dass die Zustän­dig­keits­be­stim­mungen der sogenannten Dublin II- bzw. Dublin III-Verordnung, auf die das Bundesamt seine Entscheidung gestützt habe, dann keine Anwendung fänden, wenn der Asylbewerber wegen "systemischer Mängel" des Asylverfahrens oder der Aufnah­me­be­din­gungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedsstaat mit überwiegender Wahrschein­lichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würde.

BRD ist aufgrund systematischer Mängel bei Asyl- und Aufnah­me­ver­fahren in Italien selbst zur Durchführung des Asylverfahrens verpflichtet

Nach Auswertung umfangreichen Erkennt­nis­ma­terials komme das Verwal­tungs­gericht zu der Auffassung, dass das in Italien derzeit herrschende Asyl- und Aufnah­me­ver­fahren solche systemischen Mängel aufweise, mit der Folge, dass die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sei, selbst das Asylverfahren durchzuführen. Insbesondere drohten dem Kläger im Falle einer Rückführung nach Italien die konkrete Gefahr einer menschen­un­würdigen Behandlung aufgrund Obdachlosigkeit und einer mangelnden Grundversorgung, mithin ein Leben in extremer Armut und Mittellosigkeit unterhalb des Existenz­mi­nimums. Die in Italien vorhandenen Kapazitäten der staatlichen und kommunalen Unter­brin­gungs­mög­lich­keiten für Asylsuchende seien bereits jetzt bei weitem nicht ausreichend, wobei mit einem weiteren Anstieg der Asylbe­wer­ber­zahlen zu rechnen sei. Auch sei eine Sicherung des Existenz­mi­nimums für Asylbewerber durch Sozia­l­leis­tungen durch das dortige Sozia­l­hil­fe­system nicht gewährleistet. Auch der Zugang zur Gesund­heits­ver­sorgung sei schwierig und in der Regel auf eine gesundheitliche Notfa­ll­ver­sorgung reduziert. Von diesen in Italien herrschenden inakzeptablen Aufnah­me­be­din­gungen seien auch Schutz­be­rechtigte wie der Kläger betroffen. Die hieraus resultierende Gefahr der Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention bzw. Art. 4 der Grund­recht­s­charta und schließlich auch von Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland im Falle einer Rückführung nach Italien führe zur Rechts­wid­rigkeit des angefochtenen Bundes­amts­be­scheids.

Hinweis:

Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 (Europäische Menschen­rechts­kon­vention) bzw. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lauten:

"Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."

Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Quelle: Verwaltungsgericht Darmstadt/ra-online

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