18.10.2024
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Sozialgericht Gießen Beschluss30.04.2018

Erwer­bs­min­derung auf Dauer für Menschen mit Behinderung bedarf keiner vorherigen Begutachtung durch Renten­versicherungs­trägerErsuchen um Begutachtung und Prüfung der Anspruchs­voraus­setzungen durch Renten­versicherungs­träger entbehrlich

Das Sozialgericht Gießen hat entschieden, dass auch bei Menschen, die den Eingangs- oder Berufs­bildungs­bereich einer Werkstatt für behinderte Menschen durchlaufen haben, eine volle Erwer­bs­min­derung auf Dauer angenommen werden kann.

Der 1997 geborene Antragsteller des zugrunde liegenden Verfahrens ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100. Er leidet an einem inoperablen Hirntumor, einer Visusminderung, einer Halbsei­ten­lähmung links und einer massiven Mobili­täts­ein­schränkung. Ferner liegt ein zerebrales Anfallsleiden vor.

Weitere Zahlung von Leistung mangels Vorliegen einer dauerhaften vollen Erwer­bs­min­derung verweigert

Nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 29. Januar 2018 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII gewährt hatte, hob er mit den angefochtenen Bescheiden vom 19. Februar 2018 und 20. April 2018 die Zahlung der Leistung der Grundsicherung im Alter und bei Erwer­bs­min­derung mit der Begründung auf, dass beim Antragsteller keine dauerhafte volle Erwer­bs­min­derung vorliege. Die Verwal­tungs­ent­schei­dungen stehen im Zusammenhang mit der zum 1. Juli 2017 in Kraft getretenen Änderung des § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII, wonach nunmehr ein Ersuchen an den zuständigen Rentenversicherungsträger auf gutachterliche Feststellung der Dauerhaftigkeit einer vollen Erwer­bs­min­derung nicht erfolgt, wenn "Personen in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Eingangs- und Berufs­bil­dungs­bereich durchlaufen oder im Arbeitsbereich beschäftigt sind".

Bundes­mi­nis­terium verneint Anspruch auf Grundsicherung bei Durchlaufen des Eingangs- oder Berufs­bil­dungs­be­reichs einer WfbM

Nach Ansicht des Bundes­mi­nis­teriums für Arbeit und Soziales ist bei Personen, die den Eingangs- und Berufs­bil­dungs­bereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) durchlaufen, deshalb kein Ersuchen um Begutachtung an einen Träger der Renten­ver­si­cherung zu stellen, weil die Dauerhaftigkeit der vollen Erwer­bs­min­derung erst nach Beendigung des Berufs­bil­dungs­be­reichs durch den Fachausschuss der WfbM festgestellt werden könne (Rundschreiben 2017/3 Ersuchen um gutachterliche Feststellung der Dauerhaftigkeit einer vollen Erwer­bs­min­derung für Menschen mit Behinderung in Werkstätten für Behinderte (§ 45 Satz 3 SGB XII in der ab 1. Juli 2017 geltenden Fassung) - vom 03.07.2017 Seite 4). Nach dieser Auffassung haben Menschen mit Behinderung, die den Eingangs- oder Berufs­bil­dungs­bereich einer WfbM durchlaufen, keinen Anspruch auf Grundsicherung.

SG geht von dauerhafter voller Erwer­bs­min­derung aus

Der hiergegen gerichtete Eilantrag hatte Erfolg. Nach Ansicht des Sozialgerichts Gießen ergibt sich aus § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII in der seit 1. Juli 2017 geltenden Fassung, dass bei Personen, die den Eingang- und Berufs­bil­dungs­bereich durchlaufen, ebenso wie bei Personen, die im Arbeitsbereich einer WfbM beschäftigt sind, vom Vorliegen einer dauerhaften vollen Erwer­bs­min­derung auszugehen sei. Ein Ersuchen um Begutachtung und einer Prüfung dieser Anspruchs­vor­aus­set­zungen durch den Renten­ver­si­che­rungs­träger sei entbehrlich.

Hierfür sprechen der eindeutige Wortlaut der Vorschrift und die Systematik des § 45 Satz 3 SGB XII. Denn in der Norm seien die Fallgruppen aufgezählt, in denen ein Ersuchen an den Renten­ver­si­che­rungs­träger nicht erforderlich sei, weil die Voraussetzungen für den Bezug auf Grund­si­che­rungs­leis­tungen bereits aus anderweitig vorliegenden Erkenntnissen hinreichend abgeleitet werden könnten.

Andere Auslegung der Norm würde für Menschen mit Behinderung mehrjährigen Ausschluss von der Grundsicherung bedeuten

Die von der Verwaltung vertretene Auffassung würde bedeuten, dass der im Einzelfall betroffene Mensch in den allermeisten Fällen von Leistungen der Grundsicherung bei Erwer­bs­min­derung ausgeschlossen sei, ohne dass feststehe, ob er die medizinischen Voraussetzungen nicht doch erfülle. Eine andere Auslegung der Norm hätte zur Folge, dass Menschen mit Behinderung, die den Eingangs- oder Berufs­bil­dungs­bereich einer WfbM durchliefen, für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren und drei Monaten von der Grundsicherung ausgeschlossen wären, weil ein Ersuchen durch den Träger der Sozialhilfe an den zuständigen Träger der Renten­ver­si­cherung zur Prüfung der dauerhaften vollen Erwer­bs­min­derung während dieser Zeit nicht erfolgen könne.

Ausschluss stellt Verstoß gegen Grundgesetz dar

Ein solcher Ausschluss stelle einen Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG dar. Die Betroffenen hätten aufgrund des Ausschlusses regelmäßig während der Dauer des Eingangs- und Berufs­bil­dungs­be­reichs keinen Anspruch auf Sozia­l­leis­tungen zur Existenz­si­cherung. Für den Antragsteller, der im Haushalt seiner Eltern lebt, käme nur ein Anspruch auf Sozialgeld nach dem SGB II in Betracht. Da er mit seinen Eltern eine Bedarfs­ge­mein­schaft bilde, habe dies zur Folge, dass Einkommen und Vermögen der Eltern bei der Prüfung der Hilfe­be­dürf­tigkeit zu berücksichtigen sei. Der Anspruch auf Sozialgeld liefe ins Leere, weil die Eltern des Antragstellers über ausreichendes Einkommen und Vermögen verfügten.

Sachlicher Grund für Ungleich­be­handlung nicht ersichtlich

Die gesetzlich angestrebte Verbesserung für Menschen mit Behinderungen würde damit demjenigen genommen, der sich in den Eingangs- oder Berufs­bil­dungs­bereich einer WfbM begebe, ohne dass die Frage der Dauerhaftigkeit seiner vollen Erwer­bs­min­derung geklärt sei. Für eine solche Ungleich­be­handlung gegenüber Menschen, die im Arbeitsbereich einer WfbM beschäftigt seien, bestehe kein sachlicher Grund. Eine Ungleich­be­handlung sei ferner gegenüber Personen gegeben, deren dauerhafte volle Erwer­bs­min­derung bereits vor Eintritt in den Eingangsbereich einer WfbM durch den zuständigen Renten­ver­si­che­rungs­träger festgestellt worden sei.

Quelle: Sozialgericht Gießen/ra-online

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