18.10.2024
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Dokument-Nr. 18542

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Bundessozialgericht Urteil23.07.2014

Bei den Eltern oder in einer Wohnge­mein­schaft lebende Menschen mit Behinderung haben Anspruch auf Sozialhilfe-Regelsatz von 100 %BSG bejaht Regel­be­da­rfsstufe 1 bei gemeinsamer Haushalts­führung mit Eltern oder Personen, die nicht der Partner sind

Volljährigen Sozial­hilfe­empfängern mit Behinderungen steht auch dann ein Anspruch auf den Regelbedarf der Regel­be­da­rfsstufe 1 (100 %) zu, wenn sie bei ihren Eltern oder in einer Wohnge­mein­schaft leben. Für die Zuordnung zur Regel­be­da­rfsstufe 1 ist damit nicht entscheidend, dass ein eigener Haushalt vollständig oder teilweise geführt wird; es genügt vielmehr, dass der Leistungs­berechtigte einen eigenen Haushalt gemeinsam mit einer Person - gegebenenfalls mit Eltern oder einem Elternteil - führt, die nicht sein Partner ist. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­sozial­gerichts hervor. Die drei zugrunde liegenden Verfahren wurden allerdings vom Bundes­so­zi­al­gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen, weil es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen für eine endgültige Entscheidung über einen höheren Anspruch der jeweiligen Kläger mangelte.

Seit 1. Januar 2011 erhalten Sozia­l­hil­fe­emp­fänger gemäß § 27 a Abs. 3 Sozial­ge­setzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) in Verbindung mit der Anlage zu § 28 SGB XII nur noch Leistungen für den Lebensunterhalt - im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt ebenso wie bei den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwer­bs­min­derung - in Höhe der Regel­be­da­rfsstufe 3 (80 %), wenn sie als erwachsene leistungs­be­rechtigte Person weder einen eigenen Haushalt noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder leben­s­part­ner­schaft­s­ähn­licher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen. Entgegen weit verbreiteter Ansicht in der sozia­l­hil­fe­recht­lichen Praxis geht der Gesetzgeber dabei jedoch davon aus, dass erwachsenen Personen bei gemeinsamem Haushalt jeweils der Regelbedarf der Regel­be­da­rfsstufe 1 (100 %) zusteht. Für die Zuordnung zur Regel­be­da­rfsstufe 1 ist damit nicht entscheidend, dass ein eigener Haushalt vollständig oder teilweise geführt wird; es genügt vielmehr, dass der Leistungs­be­rechtigte einen eigenen Haushalt gemeinsam mit einer Person - gegebenenfalls mit Eltern oder einem Elternteil - führt, die nicht sein Partner ist. Lediglich wenn keinerlei Haushalts­führung beim Zusammenleben mit einer anderen Person festgestellt werden kann, ist ein Anwendungsfall der Regel­be­da­rfsstufe 3 denkbar. Eine andere Auslegung verstieße, nachdem der Gesetzgeber mit Inkrafttreten der Geset­ze­s­än­derung zum 1. Januar 2011 das Modell eines Haushalts­vor­standes mit der Zuordnung eines höheren Regelbedarfs von 100 % aufgegeben hat, gegen den Gleich­heits­grundsatz, weil bei gemeinsamer Haushalts­führung jede Person nur noch Leistungen zum Lebensunterhalt nach der Regel­be­da­rfsstufe 3 (80 %) und keiner nach der Regel­be­da­rfsstufe 1 (100 %) wie in den sonstigen gesetzlichen Konstellationen erhielte.

Individuelle Fähigkeit der Mitglieder der Haushalts­ge­mein­schaft nicht ausschlaggebend

Anknüp­fungspunkt für die Qualifizierung einer gemeinsamen Haushalts­führung beim Zusammenleben von erwachsenen Personen ist dabei nicht die individuelle Fähigkeit der Mitglieder der Haushalts­ge­mein­schaft, einen Haushalt auch ohne Unter­stüt­zungs­leis­tungen eines anderen allein meistern zu können; vielmehr ist ausreichend die Beteiligung an der Haushalts­führung im Rahmen der jeweiligen geistig-seelischen und körperlichen Leistungs­fä­higkeit. Ansonsten würden bestimmte Lebens- und Wohnformen schlechter gestellt als andere, ohne dass hierfür eine sachliche Rechtfertigung ersichtlich wäre. Dies verdeutlicht das Beispiel des Zusammenlebens behinderter und deshalb in ihren körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder der seelischen Gesundheit eingeschränkter Menschen in einer gemeinsamen Wohnung. Hätte keine dieser Personen die Fähigkeit, einen Haushalt ohne Unterstützung durch andere zu führen, oder wären sie im Fall des Ambulant-betreuten-Wohnens auf die Unterstützung Dritter, die nicht ständig im Haushalt leben, angewiesen, läge bei keinem Mitglied eine eigene Haushalts­führung vor und für keine dieser Personen käme die Regel­be­da­rfsstufe 1 in Betracht.

Zur Vermutung einer gemeinsamen Haushalts­führung

§ 39 Satz 1 SGB XII enthält ergänzend die Vermutung einer gemeinsamen Haushalts­führung, wenn eine nachfragende Person gemeinsam mit einer anderen Person in einer Wohnung oder in einer entsprechenden anderen Unterkunft lebt; die Anwendung dieser gesetzlichen Vermu­tungs­re­gelung gilt auch bei Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwer­bs­min­derung und insbesondere für behinderte und pflege­be­dürftige Menschen, die von Personen, mit denen sie zusammenleben, betreut werden, damit auch für das Zusammenleben behinderter erwachsener Menschen mit ihren Eltern bzw. einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt. Auch in dieser Konstellation ist typisierend davon auszugehen, dass dem Behinderten im Rahmen seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten ein selbstständiges Leben ermöglicht wird. Im Einzelfall kann die Vermutung, dass es sich bei dem Zusammenleben in einer Wohnung um ein gleich­be­rech­tigtes Zusammenleben handelt, damit nicht bereits dadurch erschüttert werden, dass eine Person gegenüber der anderen eine geringere körperliche, geistige oder seelische Leistungs­fä­higkeit besitzt. Nur wenn keinerlei gemeinsamer Ablauf im Zusammenleben festzustellen wäre, kann Grund für die Annahme bestehen, eine Person führe keinen eigenen Haushalt; dafür trüge indes der Sozialhilfeträger die Beweislast.

Hinweise zur Rechtslage

Erläuterungen

§ 27 a Abs. 3 SGB XII i.V.m. der Anlage zu § 28 SGB XII

[...]

(3) Zur Deckung der Regelbedarfe, die sich nach den Regel­be­da­rfs­stufen der Anlage zu § 28 ergeben, sind monatliche Regelsätze zu gewähren. Der Regelsatz stellt einen monatlichen Pauschalbetrag zur Bestreitung des Regelbedarfs dar, über dessen Verwendung die Leistungs­be­rech­tigten eigen­ver­ant­wortlich entscheiden; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen.

[...]

Anlage zu § 28 SGB XII (zu § 28)

Regel­be­da­rfs­stufen nach § 28 in Euro (gültig ab 1. Januar 2014)

Regel­be­da­rfsstufe 1(391 Euro):

Für eine erwachsene leistungs­be­rechtigte Person, die als alleinstehende oder allein­er­ziehende Person einen eigenen Haushalt führt; dies gilt auch dann, wenn in diesem Haushalt eine oder mehrere weitere erwachsene Personen leben, die der Regel­be­da­rfsstufe 3 zuzuordnen sind.

Regel­be­da­rfsstufe 2 (353 Euro):

Für jeweils zwei erwachsene Leistungs­be­rechtigte, die als Ehegatten, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder leben­s­part­ner­schaft­s­ähn­licher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen.

Regel­be­da­rfsstufe 3 (313 Euro):

Für eine erwachsene leistungs­be­rechtigte Person, die weder einen eigenen Haushalt führt, noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder leben­s­part­ner­schaft­s­ähn­licher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führt.

Regel­be­da­rfsstufe 4 (296 Euro):

Für eine leistungs­be­rechtigte Jugendliche oder einen leistungs­be­rech­tigten Jugendlichen vom Beginn des 15. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.

Regel­be­da­rfsstufe 5 (261 Euro):

Für ein leistungs­be­rech­tigtes Kind vom Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres.

Regel­be­da­rfsstufe 6 (229 Euro):

Für ein leistungs­be­rech­tigtes Kind bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres.

Quelle: Bundessozialgericht/ra-online

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