21.11.2024
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Sozialgericht Berlin Urteil15.05.2019

Keine Ghetto-Rente für Roma aus Serbien und MazedonienLebens­ver­hältnisse der Roma zu Zeiten der NS-Besatzung erfüllen laut historischem Sach­verständigen­gutachten nicht Voraussetzungen für Leben im Ghetto

Das Sozialgericht Berlin hat entschieden, dass eine zur Zeit der NS-Besetzung 6-10 Jahre alte Frau keinen Anspruch gegen die Deutsche Renten­ver­si­cherung Bund auf Anerkennung der von ihr behaupteten Beitragszeiten und auf Zahlung einer Regel­al­tersrente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) hat. Laut einem vom Sozialgericht eingeholten historischen Gutachten gab es keine Ghettos für Angehörige der Volksgruppe der Roma in Serbien und Mazedonien während der NS-Besatzung.

Auch 74 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs hat das Sozialgericht Berlin über Rentenansprüche von Verfolgten der NS-Zeit zu entscheiden. Die Fälle sind geprägt durch die erschütternden Schicksale der Kläger und die Schwierigkeit, nach so langer Zeit das Vorliegen der Anspruchs­vor­aus­set­zungen zu ermitteln. Gestritten wird insbesondere um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Arbeitszeiten in Ghettos Rentenansprüche gegen die Deutsche Renten­ver­si­cherung begründen.

Angehörige der Volksgruppe der Roma machen Ansprüche wegen Ghetto-Beitragszeiten geltend

Neben verfolgten Juden, deren Leidens­ge­schichte inzwischen gründlich dokumentiert ist, haben in den letzten Jahren auch Angehörige der Volksgruppe der Roma aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien Ansprüche wegen Ghetto-Beitragszeiten geltend gemacht. Die Renten­ver­si­cherung bestreitet, dass es in dieser Gegend überhaupt Ghettos im Sinne des Gesetzes gab. Vertreten durch eine Anwaltskanzlei haben deswegen rund 200 Personen Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben. Das vorliegende Urteil fiel im Rahmen eines Muster­ver­fahrens zu diesem Themenkomplex nach Einholung eines historischen Sachver­stän­di­gen­gut­achtens.

Klägerin beantragt Gewährung von Altersrente für ehemalige Ghetto-Beschäftigte

Die 1934 geborene serbische Klägerin des zugrunde liegenden Verfahrens gehört zur Bevöl­ke­rungs­gruppe der Roma. Im Jahr 2015 beantragte sie über ihren Bevoll­mäch­tigten die Gewährung einer Altersrente für ehemalige Ghetto-Beschäftigte mit Wohnsitz im Ausland. Sie gab an, sich zur Zeit der natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Herrschaft zwischen April 1941 und September 1944 zwangsweise in der serbischen Ortschaft Smederevska Palanka aufgehalten zu haben. Sie sei dort vom deutschen Militär bewacht, ein Kontakt mit der übrigen Bevölkerung verhindert worden. Um nicht zu verhungern, habe sie, obwohl noch Kind, auf dem Feld gearbeitet und Vieh versorgt und dafür Lebensmittel erhalten. Erst nach Abzug der deutschen Soldaten habe sie in ihren Heimatort zurückkehren können.

Deutsche Renten­ver­si­cherung Bund lehnt Antrag ab

Die beklagte Deutsche Renten­ver­si­cherung Bund lehnte den Antrag im Jahr 2016 ab. Die Klägerin habe keine Arbeit während eines zwangsweisen Aufenthaltes in einem Ghetto ausgeübt. Es lägen keine Erkenntnisse vor, wonach in Serbien ein Ghetto für Sinti und Roma bestanden habe. Hiergegen erhob die Klägerin im Januar 2017 Klage vor dem Sozialgericht Berlin.

SG: Klägerin kann keine Ghetto-Beitragszeiten geltend machen

Das Sozialgericht Berlin wies die Klage nach mündlicher Verhandlung und persönlicher Befragung der zwei historischen Gutachter ab. Voraussetzung für eine Regel­al­tersrente sei die Erfüllung der Wartezeit von fünf Jahren. Auf diese Wartezeit würden Zeiten angerechnet, für die Versi­che­rungs­beiträge tatsächlich gezahlt wurden oder Zeiten, für die Beiträge als gezahlt gelten. Nach dem ZRBG (Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto) würden auch Beiträge für Beschäf­ti­gungs­zeiten von Verfolgten in einem Ghetto als gezahlt gelten. Die Klägerin könne jedoch keine entsprechenden Ghetto-Beitragszeiten geltend machen.

"Ghetto" im Sinne des Gesetzes sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der maßgeblich durch die hierzu ergangene Rechtsprechung ausgelegt wurde. Danach sei ein "Ghetto" durch die drei Elemente der Absonderung, Konzentration und Internierung bestimmter Bevöl­ke­rungs­gruppen gekennzeichnet. Hingegen komme es nicht darauf an, was historisch unter einem Ghetto zu verstehen sei oder von der Besatzungsmacht als solches bezeichnet wurde.

Bereits vorhandene typische Armutsviertel der Roma auf dem Balkan werden nicht allein durch natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Einfluss zu Ghetto

Nach dem vom Gericht eingeholten historischen Sachver­stän­di­gen­gut­achten sei nicht nachgewiesen, dass die Lebens­ver­hältnisse der Roma zu Zeiten der NS-Besatzung des heutigen Serbien und Mazedonien die Voraussetzungen für das Leben in einem Ghetto erfüllten. Sowohl die damals geltenden Verordnungen als auch die - aufgrund des Parti­sa­nen­kriegs - chaotischen Besat­zungs­strukturen würden demnach gegen eine Zusammenfassung der Bevöl­ke­rungs­gruppe der Roma in Ghettos sprechen. Bereits früher auf dem Balkan vorhandene typische Armutsviertel der Roma würden nicht allein durch den natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Einfluss zu einem Ghetto im Sinne des ZRBG.

Angaben zu Verfol­gungs­schicksalen belegen nicht Existenz von Ghettos

Vor diesem Hintergrund könnten auch die von der Klägerin und anderen Betroffenen in den Paral­lel­ver­fahren gemachten Angaben zu ihrem Verfol­gungs­schicksal die Existenz von Ghettos nicht belegen. Dies gelte umso mehr, als ihre Erklärungen weder in Einklang mit den historischen Fakten stünden noch eine persönliche und individuelle Wiedergabe erkennen ließen. Es sei vielmehr denkbar, dass der Klägerin und anderen Antragstellern vorgefertigte Erklärungen ohne Bezug zum individuellen Verfol­gungs­schicksal zur Unterschrift vorgelegt worden seien.

Zusätzliche erhebliche Zweifel an der für die Klägerin eingereichten Lebend­be­schei­nigung

Angesichts dieser Umstände komme es im Ergebnis nicht mehr darauf an, dass auch erhebliche Zweifel an der für die Klägerin eingereichten Lebend­be­schei­nigung bestünden, welche Voraussetzung für die Auszahlung einer Auslandsrente sei. Die Bescheinigung stamme von einer Einrichtung zur Inter­es­sen­ver­tretung der Roma in Mazedonien mit Sitz in Skopje und damit nicht von einer Stelle, die berechtigt sei, Lebend­be­schei­ni­gungen zu erstellen wie etwa der serbische Renten­ver­si­che­rungs­träger.

Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online (pm/kg)

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