21.11.2024
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Sie sehen einen Teil eines Daches, welches durch einen Sturm stark beschädigt wurde.
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Reichsgericht Urteil07.12.1911

Linoleumteppich-Fall: Sorgfalts­pflicht­ver­letzung kann schon vor Vertrags­ab­schluss zu Schadens­ersatz­ansprüchen führen (RGZ 78, 239)Zur Vertragshaftung aus Verschulden bei Vertrags­an­bahnung (culpa in contrahendo)

Jedes Lehrbuch zum Allgemeinen Schuldrecht zitiert ihn: Den vom Reichsgericht 1911 entschiedenen Linoleumteppich-Fall. Zentrales Problem des Falls ist die Frage, ob schon vor Abschluss eines Vertrags vorvertragliche Pflichten entstehen, die im Fall der Verletzung vertragliche Schadensersatz­ansprüche auslösen. Im Bürgerlichen Gesetzbuch fand sich keine gesetzliche Regelung. Die Richter behalfen sich mit dem gewohnheits­rechtlich anerkannten und von Rudolph von Jhering 1861 entwickelten Rechtsinstitut der culpa in contrahendo. Heute ist die Haftung für vorver­trag­liches Verschulden gesetzlich klar geregelt und in § 311 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 280 Abs. 1 BGB verankert.

Der Fall spielt in einem Kaufhaus. Die Klägerin begibt sich mit ihrer Tochter nach verschiedenen Einkäufen in das Linoleumlager, um einen Linoleumteppich zu kaufen. Dort wird sie von einem Handlungs­ge­hilfen des Kaufhauses bedient. Dieser legt ihr unter­schiedliche Muster vor. Sie wählt eines aus. Um an die betreffende Linoleumrolle heranzukommen und sie hervorzuholen, stellt der Handlungs­gehilfe zwei andere Rollen etwas beiseite. Die Rollen fallen um und treffen die Klägerin und ihr Kind. Beide werden zu Boden gerissen und verletzt. Zum Kauf des Teppichs kommt es nicht mehr. Die Klägerin verklagt daraufhin die Kaufh­aus­be­treiberin auf Schadensersatz vor dem Landgericht Berlin, das der Klage stattgibt. Kammergericht und Reichsgericht bestätigen das Urteil.

Handlungs­gehilfe trifft Verschulden an Unfall

Die Richter entschieden, dass den Handlungs­ge­hilfen ein Verschulden an dem Unfall treffe. Denn er habe die Rollen ohne Sicherung beiseite gestellt, obwohl sie wegen ihres geringen Umfangs keine genügende Standfestigkeit gehabt hätten. Er hätte sie seitlich absichern oder sie schräg an die Wand lehnen müssen. Er hätte die Gefahr für die Klägerin erkennen können. Es entspreche der Gepflogenheit des laufenden Publikums, sich dem Aufbe­wah­rungsplatz der Waren zu nähern. Der Unfall hätte sich nicht ereignet, wenn der Handlungs­gehilfe die Rollen mit Bedacht und ordnungsgemäß beiseite gestellt hätte.

Bereits mit Aufnahme von Vertrags­ver­hand­lungen beginnt vertragliche Haftung

Die beklagte Kaufh­aus­be­treiberin hafte gemäß § 278 BGB für das Verschulden des Handlungs­ge­hilfen. Dieser sei in Vertretung der Beklagten in Kaufver­hand­lungen mit der Klägerin getreten, die um Vorlegung eines Linole­um­teppichs ersucht hatte, um ihn sich anzusehen und zu kaufen. Der Handlungs­gehilfe sei der Bitte nachgekommen, um einen Kauf zustande zu bringen. Antrag und Vorlegung des Teppichs sowie die Annahme dieses Antrags hätten die Hervorbringung eines Kaufs, also eines rechts­ge­schäft­lichen Erfolges bezweckt.

Aus vorver­trag­lichem Schuld­ver­hältnis ergeben sich Sorgfalts­pflichten

Dies sei kein bloß tatsächlicher Vorgang, wie ihn etwa eine reine Gefäl­lig­keits­handlung darstellen würde. Vielmehr sei ein dem Kauf vorbereitendes Rechts­ver­hältnis zwischen den Parteien entstanden, das einen vertrag­s­ähn­lichen Charakter trage. Es habe insofern rechts­ge­schäftliche Verbind­lich­keiten erzeugt, als den Parteien die Pflicht erwachsen sei, bei der Vorlegung und der Besichtigung der Ware die gebotene Sorgfalt für die Gesundheit und das Eigentum des anderen Teils einzuhalten. Es sei in der Rechtsprechung des Reichsgerichts anerkannt, dass sich aus einem Vertrags- oder Schuld­ver­hältnis Sorgfaltspflichten für Leben und Eigentum des Gegners ergeben können, die mit der rechtlichen Natur des Verhältnisses im engeren Sinn nichts zu tun haben, jedoch aus seiner tatsächlichen Gestaltung notwendig folgen.

Kaufh­aus­be­treiberin muss sich Verschulden ihres Handlungs­ge­hilfen zurechnen lassen

Die Beklagte müsse sich das Verschulden ihres Handlungs­ge­hilfen auch zurechnen lassen. Dies ergebe sich aus dem Rechtsgedanken des § 278 BGB. Danach müsse derjenige für die sorgfältige Leistung des Gehilfen einstehen, der selbst eine Leistung schulde, die er mit der erforderlichen Sorgfalt zu bewirken habe, und sich hierzu eines Gehilfen bediene. Ebenso dürfe der andere, dem gegenüber die Leistung zu bewirken sei, nicht schlechter gestellt sein, nur weil der Gegner sie nicht selber ausführe, sondern sie auf einen Gehilfen übertrage.

Deliktische Haftung für Verrich­tungs­ge­hilfen ist wegen Entlas­tungs­mög­lichkeit unzureichend

Die Richter führten weiter aus, dass es auch dem allgemeinen Rechtsempfinden widerstreiten würde, die Grundsätze der culpa in contrahendo nicht anzuwenden und die Klägerin auf das Deliktsrecht zu verweisen. Denn anders als bei Anwendung des § 278 BGB habe die Beklagte im Deliktsrecht die Möglichkeit, sich der Zurechnung des Verschuldens des Handlungs­ge­hilfen durch Führung des Entlas­tungs­be­weises des § 831 BGB und damit der Haftung zu entziehen.

Erläuterungen

Die Entscheidung ist aus dem Jahr 1911 und erscheint im Rahmen der Reihe "Urteile, die Rechts­ge­schichte geschrieben haben".

Quelle: ra-online (we), RGZ 78, 239

der Leitsatz

Haftet der Inhaber eines Warenhauses für das Verschulden seines Angestellten, der einen Kauflustigen beim Vorlegen von Waren körperlich verletzt?

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