23.11.2024
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Oberlandesgericht Hamm Urteil27.09.2016

Behinderten­testament: Eltern müssen ihrem behinderten Kind bei vorhandenem größeren Vermögen keinen über den Pflichtteil hinausgehenden Erbteil hinterlassenOLG Hamm zur Wirksamkeit eines sogenannten Behinderten­testamentes

Vererben vermögende Eltern ihrem behinderten Kind einen Erbteil mittels eines sogenannten Behinderten­testaments in der Weise, dass das Kind auch beim Erbfall weiterhin auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen ist, ist das Testament nicht bereits deswegen sittenwidrig und nichtig. Dies entschied das Oberlan­des­gericht Hamm und bestätigte das erstin­sta­nzliche Urteil des Landgerichts Essen.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die vermögenden Eheleute aus Sprockhövel sind die Eltern dreier Kinder, unter anderem des heute 40 Jahre alten Sohnes mit einem genetisch bedingten Down-Syndrom. Der Sohn lebt in einem Behin­der­ten­wohnheim in Wuppertal und steht unter gesetzlicher Betreuung. Von dem im vorliegenden Verfahren klagenden Landschafts­verband Westfalen-Lippe wird er seit dem Jahre 2002 in seinem Lebensunterhalt mit staatlichen Leistungen unterstützt, die sich bis zum Jahre 2014 auf insgesamt ca. 106.000 Euro beliefen.

Sachverhalt

Im Jahre 2000 errichteten die Eltern ein gemein­schaft­liches Testament in Form eines sogenannten Behin­der­ten­tes­taments. Durch dessen Regelungen sollte der Erbteil des behinderten Sohnes bei einem Erbfall dem Kläger als Träger der Sozialhilfe dauerhaft entzogen werden. Das Testament sieht deswegen vor, dass die Eltern ihrem geistig behinderten Kind jeweils einen Anteil in Höhe des 1,1-fachen Pflichtteils als Vorerben hinterlassen und für diese Erbteile bis zum Versterben des Sohnes eine Dauer­tes­ta­ments­voll­streckung angeordnet ist. Nach den testa­men­ta­rischen Anordnungen hat der Testa­ments­voll­strecker jeden Erbteil des behinderten Sohnes so zu verwalten, dass dem behinderten Sohn nur so viele Mittel - zur Finanzierung persönlicher Interessen und Bedürfnisse - zur Verfügung stellt werden, dass ihm andere Zuwendungen und insbesondere staatliche Leistungen nicht verloren gehen. Beim Versterben des behinderten Sohnes fallen seine Erbteile den dann noch lebenden Familien­an­ge­hörigen zu, die das Testament insoweit als Nacherben bestimmt.

Im Jahre 2010 verstarb die seinerzeit 68 Jahre alte Mutter. Der nach ihrem Tod ausgestellte Erbschein weist den behinderten Sohn als Miterben mit einem Anteil von ,1375 und den heute 81 Jahre alten Vater sowie die beiden anderen Geschwister mit Erbteilen von insgesamt ,8625 Anteilen aus. Dabei kam dem Erbteil des behinderten Sohnes ein Wert von über 960.000 Euro zu.

Sozia­l­hil­fe­träger hält Testament für sittenwidrig und unwirksam

Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Kläger als Träger der Sozialhilfe auf sich - vom behinderten Sohn - gesetzlich übergeleitete Pflichtteils- und Pflicht­teil­s­er­gän­zungs­ansprüche nach dem Tode der Mutter gegen den überlebenden Vater und die beiden Geschwister als Beklagte geltend gemacht. Im Wege einer so genannten Stufenklage verlangt er zunächst umfassende Auskunft über den Bestand des Nachlasses. Dabei vertritt der Kläger die Auffassung, dass der behinderte Sohn ohne testa­men­ta­rische Beschränkungen pflicht­teils­be­rechtigt sei, weil das Testament aus dem Jahre 2000 sittenwidrig und damit unwirksam sei. Dem Sohn stünden Pflichtteils- und Pflicht­teil­s­er­gän­zungs­ansprüche in Höhe von über 930.000 Euro zu, die ausreichten, um die Kosten für die als stationäre Einglie­de­rungshilfe zu leistende Sozialhilfe bis zu seinem Lebensende zu bezahlen.

Klage und Berufung des Sozia­l­hil­fe­trägers bleiben erfolglos

Die Klage blieb in erster Instanz erfolglos, weil das Landgericht das Testament als rechtswirksam angesehen hat. Die Berufung des Klägers blieb ebenfalls überwiegend erfolglos. Das Oberlan­des­gericht Hamm hat die Wirksamkeit des sogenannten Behin­der­ten­tes­taments bestätigt und die Auskunfts­ansprüche des Klägers abgewiesen, soweit sie von einem unwirksamen Testament ausgehen. Auskunft kann der Kläger nach der Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts allerdings über - möglicherweise ausglei­chungs­pflichtige - Schenkungen vor dem Eintritt des Erbfalls beanspruchen, weil die Beklagten diese Auskunft auch bei einem wirksamen Testament zu erteilen haben.

Erblasser kann behindertes Kind im Rahmen der Testierfreiheit bei Erbfolge benachteiligen

Das sogenannten Behindertentestament sei nicht sittenwidrig, so das Oberlan­des­gericht. Ausgehend von der höchst­rich­ter­lichen Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs könne ein Erblasser im Rahmen seiner Testierfreiheit ein behindertes Kind bei der Erbfolge benachteiligen. Erst das gesetzliche Pflicht­teilsrecht begrenzte seine Testierfreiheit. Dem Pflicht­teilsrecht genüge das infrage stehende Testament, weil der dem behinderten Sohn zugedachte Erbteil über dem gesetzlichen Pflichtteil liege.

Anordnung einer Testa­ments­voll­streckung macht Testament nicht sittenwidrig

Das Testament sei auch nicht deswegen sittenwidrig, weil die Eltern eine Testa­ments­voll­streckung angeordnet hätten. Mit dieser hätten die Eltern sicherstellen wollen, dass ihrem behinderten Sohn der Erbteil auf Dauer erhalten bleibe. Aus dem Erbteil sollten Annehm­lich­keiten und Therapien finanziert werden können, die vom Träger der Sozialhilfe nicht oder nur zum Teil bezahlt würden. Die mit dieser Maßgabe angeordnete Testa­ments­voll­streckung sei keine sittenwidrige Zielsetzung. Die Eltern hätten diese rechtliche Konstruktion für ihrem bei der Testa­ment­s­er­richtung erst 24 Jahre alten behinderten Sohn wählen dürfen, weil seinerzeit nicht absehbar gewesen sei, ob die vom Kläger im Rahmen der stationären Einglie­de­rungshilfe bezahlten Kosten auch künftig ausreichen würden, um die angestrebte Versorgung ihres Sohnes auch nach ihrem Tod sicherzustellen.

Ausschluss des Zugriff des Sozia­l­hil­fe­trägers auf Nachlass auch nach dem Tod des behinderten Sohns begründet keine Sitten­wid­rigkeit

Die Anordnung der Vor- und Nacherbfolge, die im Ergebnis dazu führe, dass der Kläger selbst nach dem Tod des behinderten Sohnes nicht auf sein etwaig noch verbliebenes Erbe zurückgreifen könne, sei ebenfalls nicht sittenwidrig. Es gebe keine gesetzliche Vorgabe, die Eltern dazu verpflichteten, einem behinderten Kind jedenfalls ab einer gewissen Größe ihres Vermögens einen über den Pflichtteil hinausgehenden Erbteil zu hinterlassen, damit es nicht ausschließlich der Allgemeinheit zur Last falle. Eine derartige gesetzliche Vorgabe sei auch im Sozia­l­hil­ferecht nicht enthalten. Insbesondere lasse sie sich nicht dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe entnehmen, den der Gesetzgeber bereits nicht ausnahmslos umgesetzt und auch unterschiedlich ausgestaltet habe. Die rechtliche Bewertung entspreche der höchst­rich­ter­lichen Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs aus dem Jahre 1993, die den Gesetzgeber bislang zu keinen anderen rechts­po­li­tischen Entscheidungen veranlasst habe.

Erbe muss nicht zu Gunsten des Sozia­l­hil­fe­trägers ausgeschlagen werden

Zu berücksichtigen sei zudem, dass der Sozialhilfe berechtigte behinderte Sohn seinen Pflicht­teils­an­spruch durch das Ausschlagen seines - mittels einer Testa­ments­voll­streckung und Nacherbfolge - beschränkten Erbteils ohne weiteres hätte erhalten können. Dass der für Erban­ge­le­gen­heiten bestellte Ergän­zungs­pfleger des Sohnes die Erbschaft nicht ausgeschlagen habe, um dem Sohn - neben der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen - künftig auch weitere Annehm­lich­keiten, wie Therapien und Urlaube, zu ermöglichen, sei insoweit ebenfalls nicht zu beanstanden. Es gebe keine rechtliche Verpflichtung, ein Erbe zu Gunsten eines Sozia­l­hil­fe­trägers auszuschlagen.

Quelle: Oberlandesgericht Hamm/ra-online

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