21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil01.12.2011

EGMR: Fünftägige Ingewahr­samnahme während G8-Gipfel nicht gerechtfertigtPolizeiliche Maßnahmen verletzten Beschwer­de­führer im Recht auf Freiheit und Sicherheit und im Recht auf Versammlungs- und Verei­ni­gungs­freiheit

Die mehr als fünftägige Ingewahr­samnahme zweier junger Männer, durch die sie gehindert wurden, im Juni 2007 an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Heiligendamm nahe Rostock teilzunehmen, stellt eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5 § 1) sowie eine Verletzung des Rechts auf Versammlungs- und Verei­ni­gungs­freiheit (Artikel 11) gemäß der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Die Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls, Sven Schwabe und M.G., sind deutsche Staats­an­ge­hörige, 1985 geboren, und leben in Bad Bevensen bzw. Berlin. Beide reisten im Juni 2007 nach Rostock, um an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen. Am Abend des 3. Juni führte die Polizei eine Perso­nen­kon­trolle auf einem Parkplatz vor einer Justiz­voll­zugs­anstalt durch, wo sich die Beschwer­de­führer in Begleitung von sieben weiteren Personen neben einem Transporter aufhielten. Nach Angaben der Polizei wehrte sich einer der Beschwer­de­führer körperlich gegen die Perso­nen­kon­trolle. In dem Transporter stellte die Polizei Transparente mit der Aufschrift „freedom for all prisoners“ und „free all now“ sicher. Die Beschwer­de­führer wurden festgenommen.

Amts- und Landgericht Rostock erklären Ingewahr­samnahme zur Verhinderung von Begehung einer Straftat für rechtmäßig

Am frühen Morgen des 4. Juni 2007 ordnete das Amtsgericht Rostock die Ingewahrsamnahme der Beschwer­de­führer bis spätestens zum 9. Juni mittags an. Es berief sich auf das Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg- Vorpommern und befand, dass die Ingewahr­samnahme rechtmäßig sei, um der Begehung einer Straftat vorzubeugen. Da in dem Transporter Transparente gefunden worden seien, die zur Befreiung von Häftlingen aufriefen, sei davon auszugehen, dass die Beschwer­de­führer im Begriff gewesen seien, eine Straftat zu begehen oder Beihilfe zur Begehung einer Straftat zu leisten. Am selben Tag wies das Landgericht Rostock die Berufung der Beschwer­de­führer gegen diese Entscheidung zurück. Das Gericht zog aus der Aufschrift der Transparente die Schluss­fol­gerung, dass die Beschwer­de­führer andere zur Befreiung von Häftlingen aufgefordert hätten, was eine Straftat darstelle.

Oberlan­des­gericht weist Berufung der Beschwer­de­führer im Juni 2007 zurück

Die anschließend eingelegte Berufung der Beschwer­de­führer – mit dem Argument, die Parolen hätten sich an die Polizei gerichtet und diese aufgefordert, die zahlreichen Fest- und Ingewahr­samnahmen von Demonstranten zu beenden, und seien nicht als Aufruf an andere zu verstehen gewesen, Häftlinge mit Gewalt zu befreien – wurde vom Oberlan­des­gericht Rostock am 7. Juni zurückgewiesen. Das Gericht war der Auffassung, dass die Parolen zwar unterschiedlich ausgelegt werden könnten, die Polizei angesichts der Sicherheitslage in Rostock im Vorfeld des G8-Gipfels aber befugt gewesen sei, mehrdeutige Erklärungen zu unterbinden, die zu einem Sicher­heits­risiko führten. Die Annahme der Polizei, die Beschwer­de­führer beabsichtigten, nach Rostock zu fahren und die Transparente bei den dortigen teilweise gewalttätigen Demonstrationen zu zeigen, sei berechtigt gewesen.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht nimmt Verfas­sungs­be­schwerde nicht zu Entscheidung an

Während ihres Gewahrsams legten die Beschwer­de­führer auch Verfas­sungs­be­schwerde ein und beantragten ihre sofortige Freilassung durch Erlass einer einstweiligen Anordnung. Am 8. Juni 2007 informierte sie das Bundes­ver­fas­sungs­gericht, dass nicht beabsichtigt sei, eine Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung herbeizuführen. Am 9. Juni mittags wurden die Beschwer­de­führer entlassen. Am 6. August 2007 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, ihre Verfas­sungs­be­schwerden zur Entscheidung anzunehmen.

Ein gegen die Beschwer­de­führer eingeleitetes Strafverfahren wegen Widerstandes gegen Vollstre­ckungs­beamte wurde später eingestellt.

Beschwer­de­führer sehen sich in mehreren Menschenrechten verletzt

Die Beschwer­de­führer rügten ihre fünfein­halb­tägige Ingewahr­samnahme. Sie machten einen Verstoß gegen Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Artikel 10 (Freiheit der Meinung­s­äu­ßerung) und Artikel 11 (Versammlungs- und Verei­ni­gungs­freiheit) geltend.

Die Beschwerde wurde am 8. Februar 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

EGMR prüft Rechtmäßigkeit der Ingewahr­samnahme im Hinblick auf mögliche Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit

Unter Berück­sich­tigung des Vortrags der deutschen Bundesregierung untersuchte der Gerichtshof zunächst, ob die Ingewahr­samnahme der Beschwer­de­führer nach Artikel 5 § 1 (c) gerechtfertigt war als „Freiheits­ent­ziehung, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig [war], sie an der Begehung einer Straftat zu hindern“. Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass die deutschen Gerichte unter­schied­licher Auffassung gewesen waren, welche Straftat die Beschwer­de­führer im Begriff gewesen seien zu begehen. Während das Amtsgericht und das Landgericht geschluss­folgert hatten, sie hätten geplant, andere anzustiften, Häftlinge der Justiz­voll­zugs­anstalt, vor der die Beschwer­de­führer festgenommen wurden, gewaltsam zu befreien, hatte das Oberlan­des­gericht die Auffassung vertreten, sie hätten beabsichtigt, nach Rostock zu fahren und die Demonstranten dort durch das Tragen der Transparente zu Straftaten anzustiften.

Gerichtshof hält fortwährenden Gewahrsam für nicht notwendig

Die Beschwer­de­führer blieben fünfeinhalb Tage lang, somit für einen erheblichen Zeitraum, in Gewahrsam. Zudem konnten die Parolen auf den Transparenten, wie das Oberlan­des­gericht anerkannt hatte, unterschiedlich aufgefasst werden. Es war unumstritten, dass die Beschwer­de­führer keinerlei Werkzeuge mit sich geführt hatten, die zur gewaltsamen Befreiung von Häftlingen hätten dienen können. Der Gerichtshof war folglich nicht davon überzeugt, dass begründeter Anlass zu der Annahme bestand, dass ihr fortwährender Gewahrsam notwendig war, um sie an der Begehung einer hinreichend konkreten und spezifischen Straftat zu hindern. Weiter war der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass der Gewahrsam überhaupt notwendig war, angesichts der Tatsache, dass es genügt hätte, die Transparente zu beschlagnahmen, um die Beschwer­de­führer daran zu hindern, andere zur Befreiung von Gefangenen anzustiften.

Die Bundesregierung hatte weiter argumentiert, der Gewahrsam sei notwendig gewesen, da die Beschwer­de­führer einer Anordnung, sich regelmäßig bei der Polizei an ihren jeweiligen Wohnorten zu melden und das Gebiet, in dem die G8-Demonstrationen stattfinden sollten, nicht zu betreten, vermutlich nicht Folge geleistet hätten. Der Gerichtshof wies allerdings darauf hin, dass die Polizei keine solche Anordnung getroffen hatte. Die Pflicht, keine Straftat zu begehen, kann darüber hinaus nicht als hinreichend konkret und spezifisch gelten, um nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als „gesetzliche Verpflichtung“ im Sinne von Artikel 5 § 1 (b) zu gelten und somit den Gewahrsam der Beschwer­de­führer zu rechtfertigen.

Gerichtshof bejaht Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit

Die deutschen Gerichte hatten die Beschwer­de­führer keiner Straftat für schuldig befunden, sondern sie hatten ihren Gewahrsam angeordnet, um der Begehung einer möglichen künftigen Straftat vorzubeugen. Zwar verpflichtet die Konvention Staaten, angemessene Schritte zu unternehmen, um Straftaten vorzubeugen, die den Behörden bekannt sind oder bekannt sein sollten. Sie lässt es aber nicht zu, dass Staaten Einzelpersonen vor Straftaten einer Person schützen, indem sie Maßnahmen ergreifen, die selbst gegen die Konven­ti­o­ns­rechte dieser Person verstoßen. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 5 § 1 vor.

Ingewahr­samnahme stellt Eingriff in Versamm­lungs­freiheit dar

Die Beschwerde nach Artikel 10 und 11 bezog sich im Wesentlichen auf das Recht der Beschwer­de­führer auf Versammlungs- und Verei­ni­gungs­freiheit. Der Gerichtshof entschied daher, diesen Teil der Beschwerde nur im Hinblick auf Artikel 11 zu prüfen. Es war zwischen den Parteien unumstritten, dass der Gewahrsam der Beschwer­de­führer einen Eingriff in ihre Versammlungsfreiheit dargestellt hatte, da er sie daran hinderte, an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen.

Tragen von Transparenten lässt keine Rückschlüsse auf tatsächliches Vorhaben des Begehens einer Straftat zu

Der Gerichtshof war der Auffassung, dass die Absicht der Behörden, die Beschwer­de­führer von der Begehung einer Straftat abzuhalten, für sich genommen einen legitimen Zweck darstellte. Weiter erkannte er an, dass es eine erhebliche Herausforderung für die Behörden bedeutete, angesichts von 25.000 erwarteten Demonstranten, einschließlich einer erheblichen Anzahl gewaltbereiter Personen, die Sicherheit der Gipfel­teil­nehmer zu gewährleisten und die öffentliche Ordnung aufrecht­zu­er­halten. Wie der Gerichtshof im Hinblick auf Artikel 5 festgestellt hatte, stand allerdings nicht fest, dass die Beschwer­de­führer mit dem Tragen der Transparente tatsächlich geplant hatten, andere, gewaltbereite, Demonstranten bewusst zur Freilassung von Gefangenen anzustiften.

EGRM hält andere, weniger einschneidende, Maßnahmen zur Aufrecht­er­haltung der Sicherheit für möglich

Darüber hinaus war der Gerichtshof der Auffassung, dass die Beschwer­de­führer durch ihre Teilnahme an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel beabsichtigt hatten, an einer Diskussion über Fragen von öffentlichem Interesse, nämlich über die Auswirkungen der Globalisierung auf das Leben der Menschen, teilzunehmen. Durch das Tragen der Parolen auf ihren Transparenten hatten sie beabsichtigt, das Sicher­heits­ma­na­gement der Polizei, insbesondere die hohe Zahl der Festnahmen, zu kritisieren. Ein mehrtägiger Freiheitsentzug für den Versuch, diese Transparente zu tragen, hatte eine abschreckende Wirkung für die Äußerung einer solchen Meinung und schränkte die öffentliche Diskussion zu diesem Thema ein. Der Gerichtshof zog daraus den Schluss, dass kein angemessener Ausgleich herbeigeführt worden war zwischen dem Ziel, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und Straftaten vorzubeugen einerseits und dem Interesse der Beschwer­de­führer an Versamm­lungs­freiheit andererseits. Schließlich war der Gerichtshof nicht überzeugt davon, dass es nicht auch andere, weniger einschneidende, Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels auf verhält­nis­mäßige Weise gegeben hätte, wie etwa die Beschlagnahme der Transparente. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 11 vor.

Gerichtshof verpflichtet Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz

Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland den Beschwer­de­führern jeweils 3.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden sowie Herrn Schwabe 4.233,35 Euro und Herrn G. 4.453,15 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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