Die Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls sind zwei österreichische Ehepaare, die an Unfruchtbarkeit leiden und auf künstliche Befruchtungstechniken zurückgreifen wollten, die in Österreich verboten sind.
S.H. kann Eizellen produzieren, leidet aber an eileiterbedingter Sterilität und kann deshalb nicht auf natürliche Weise schwanger werden; ihr Ehemann ist steril. Aufgrund dieser Diagnose wäre eine In-vitro-Befruchtung mit gespendeten Samenzellen für das Ehepaar H. die einzige Möglichkeit, ein Kind zu bekommen, das mit einem der Partner genetisch verwandt ist. H.E.-G. leidet an Agonadismus, d.h. sie kann keine Eizellen produzieren, während ihr Ehemann M.G. zeugungsfähige Spermien produziert. Das Ehepaar G. könnte nur mit einer In-vitro-Befruchtung mit einer gespendeten Eizelle ein Kind bekommen, das mit einem Elternteil genetisch verwandt ist. Beide Möglichkeiten sind aber nach dem österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz ausgeschlossen, das Samenspenden für die In-vitro-Befruchtung und Eizellspenden generell verbietet. Gleichzeitig sind nach dem Gesetz andere künstliche Befruchtungstechniken, insbesondere die In-vitro-Befruchtung mit Ei- und Samenzellen der Partner bzw. Ehepartner selbst (homologe Methoden) erlaubt, ebenso wie, in Ausnahmefällen, Samenspenden, wenn die Spermien direkt in die Gebärmutter der Frau eingebracht werden (In-vivo-Befruchtung).
S.H. und H.E.-G. brachten im Mai 1998 einen Antrag zur Aufhebung der anwendbaren Bestimmungen des Fortpflanzungsmedizingesetzes beim österreichischen Verfassungsgerichtshof ein. In einer Entscheidung vom Oktober 1999 befand der Verfassungsgerichtshof, dass das Verbot der fraglichen Befruchtungstechniken einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerinnen auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens bedeute. Dieser Eingriff sei aber gerechtfertigt, da die fraglichen Bestimmungen darauf abzielten, die „Schaffung ungewöhnlicher persönlicher Beziehungen“ zu vermeiden, die etwa entstünden, wenn ein Kind zwei biologische Mütter hätte, eine genetische und eine, die das Kind austrüge. Weiter zielten die Bestimmungen darauf ab, einer “drohenden Ausbeutung und Ausnützung der Frau” vorzubeugen, die denkbar wäre, wenn Druck auf sozial benachteiligte Frauen ausgeübt würde, Eizellen zu spenden, um ihre eigene In-vitro-Befruchtung zu finanzieren, die sie sich andernfalls nicht leisten könnten.
Mit ihrer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte machten die Beschwerdeführer geltend, dass das Verbot von Eizell- und Samenspenden für die In-vitro-Befruchtung ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 verletze und dass ihre Ungleichbehandlung im Vergleich zu Paaren, die die Anwendung medizinischer Fortpflanzungstechniken anstrebten, aber dabei nicht auf Eizell- oder Samenspenden für die In-vitro-Befruchtung angewiesen seien, diskriminierend sei und folglich Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) verletze.
Die Beschwerde wurde am 8. Mai 2000 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. In einem Kammerurteil vom 1. April 2010 stellte der Gerichtshof mit einer Mehrheit der Stimmen einen Verstoß gegen Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 fest. Auf Antrag der österreichischen Regierung wurde der Fall im Oktober 2010 an die Große Kammer verwiesen und am 23. Februar 2011 fand eine mündliche Verhandlung statt. Die Regierungen Italiens und Deutschlands sowie die folgenden Organisationen erhielten die Erlaubnis, als Drittparteien Stellungnahmen abzugeben.
Zwischen den Parteien war unumstritten, dass Artikel 8 im vorliegenden Fall anwendbar ist. Der Gerichtshof stimmte dem zu, da das Recht eines Paares, ein Kind zu zeugen und sich dazu künstlicher Befruchtungstechniken zu bedienen, in den Schutzbereich von Artikel 8 fällt, da diese Entscheidung Bestandteil des Privat- und Familienlebens ist.
Die fraglichen Bestimmungen des österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetzes werfen die Frage auf, ob der Staat eine Verpflichtung hat, bestimmte Formen der künstlichen Befruchtung zuzulassen. Der Gerichtshof fand es allerdings angemessen, von einem Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Familienlebens auszugehen und den Fall aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Durch Anwendung des Gesetzes, das sie erfolglos vor den österreichischen Gerichten angefochten hatten, waren sie daran gehindert, sich bestimmter Techniken der künstlichen Fortpflanzung zu bedienen.
Es war folglich unumstritten, dass das fragliche Verbot gesetzlich vorgesehen war. Im Hinblick auf den Beurteilungsspielraum des Staates bei der gesetzlichen Regelung der künstlichen Befruchtung nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass in den Mitgliedstaaten des Europarats heute ein klarer Trend zu verzeichnen ist, Keimzellspenden zum Zweck der In-vitro-Befruchtung zu erlauben. Dieser entstehende Konsens beruht allerdings nicht auf gefestigten Grundsätzen, sondern spiegelt eine Entwicklungsstufe in einem besonders dynamischen Rechtsgebiet wider und engt den Beurteilungsspielraum des Staates folglich nicht entscheidend ein. Im Gegenteil kam der Gerichtshof zu der Auffassung, dass Österreich notwendigerweise über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügte, angesichts der Tatsache, dass die In-vitro-Befruchtung zum Zeitpunkt der österreichischen Gerichtsentscheidung heikle ethische Fragen vor dem Hintergrund dynamischer wissenschaftlicher Entwicklungen aufwarf und weiter aufwirft.
Der Gerichtshof stellte fest, dass der österreichische Gesetzgeber künstliche Befruchtung nicht völlig ausgeschlossen hatte, da er homologe Methoden erlaubte. Nach Auffassung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs hatte sich der Gesetzgeber darum bemüht, den Wunsch, medizinisch unterstützte Fortpflanzung zu ermöglichen, einerseits und das bestehende Unbehagen weiter Teile der Gesellschaft hinsichtlich der Rolle und der Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsmedizin andererseits in Einklang zu bringen.
Der österreichische Gesetzgeber hätte Schutzmaßnahmen treffen können, um die mit Eizellspenden verbundenen Risiken zu reduzieren, etwa die Gefahr, dass sozial benachteiligte Frauen ausgenützt oder Frauen unter Druck gesetzt werden könnten, mehr Eizellen zu produzieren als für ihre eigene In-vitro-Befruchtung notwendig wäre. Außerdem sind ungewöhnliche Familienbeziehungen, die von der üblichen Eltern-Kind- Beziehung auf der Grundlage einer direkten biologischen Verwandtschaft abweichen, in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten des Europarats nicht unbekannt und die Adoption ist für solche Beziehungen in all diesen Staaten ein angemessener Rechtsrahmen.
Der Gerichtshof konnte allerdings nicht darüber hinwegsehen, dass das Phänomen einer Aufspaltung der Mutterschaft zwischen einer genetischen Mutter und derjenigen, die das Kind austrägt, sich signifikant von der Beziehung zwischen Adoptiveltern zu ihren Kindern unterscheidet. Der Gesetzgeber war folglich insbesondere von dem Ziel geleitet, das grundlegende zivilrechtliche Prinzip aufrechtzuerhalten, dass die Identität der Mutter immer sicher feststeht, und der Möglichkeit vorzubeugen, dass zwei Frauen behaupten könnten, biologische Mutter desselben Kindes zu sein.
Weiterhin stellte der Gerichtshof fest, dass alle relevanten europäischen Rechtsinstrumente zur Frage der Eizellspende entweder schweigen oder – wie die Richtlinie der Europäischen Union über Sicherheitsstandards für die Spende von menschlichen Zellen – die Entscheidung, ob Keimzellen verwendet werden dürfen oder nicht, den Staaten überlassen.
Im Hinblick auf das Verbot von Samenspenden für die In-vitro-Befruchtung räumte der Gerichtshof zwar ein, dass diese Form der künstlichen Befruchtung zwei Methoden miteinander verbindet, die für sich genommen nach österreichischem Recht erlaubt sind. Einige der Argumente der österreichischen Regierung für das Verbot von Keimzellspenden für die In-vitro-Befruchtung lassen sich darüber hinaus nur auf das Verbot von Eizellspenden anwenden. Dennoch bleiben die grundlegenden Bedenken, dass Keimzellspenden, die den Einsatz Dritter in einem hochgradig technischen medizinischen Verfahren mit sich bringen, in der österreichischen Gesellschaft ein umstrittenes Thema sind, das komplexe ethische Fragen aufwirft, zu denen noch kein Konsens besteht.
Die Tatsache, dass der österreichische Gesetzgeber beim Verbot der Verwendung von Samen- oder Eizellspenden bei der In-vitro-Befruchtung nicht auch gleichzeitig Samenspenden für die künstliche In-vivo-Befruchtung ausgeschlossen hat, zeigt, dass er sorgsam abgewogen und sich um eine Vereinbarung der gesellschaftlichen Realitäten mit seiner grundsätzlichen Herangehensweise bemüht hat. Darüber hinaus ist es nach österreichischem Recht nicht verboten, sich im Ausland einer Fruchtbarkeitsbehandlung unter Verwendung von Methoden der künstlichen Befruchtung zu unterziehen, die in Österreich nicht erlaubt sind.
Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass Österreich zum fraglichen Zeitpunkt seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat, weder im Hinblick auf das Verbot von Eizellspenden zum Zweck der künstlichen Befruchtung noch im Hinblick auf das Verbot von Samenspenden für die In-vitro-Befruchtung. Folglich lag im Fall der Beschwerdeführer keine Verletzung von Artikel 8 vor.
Gleichzeitig wies der Gerichtshof darauf hin, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung von 1999, in der er das fragliche Verbot bestätigte, befunden hatte, dass der rechtliche Rahmen den damaligen Stand der medizinischen Forschung und den damaligen gesellschaftlichen Konsens widerspiegele. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs habe der Gesetzgeber etwaige künftige Veränderungen dieser Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die österreichische Regierung hatte aber keinerlei Hinweise gegeben, wonach der Staat diesem Aspekt des Urteils weiter nachgegangen wäre. Auch wenn er im vorliegenden Fall keine Verletzung der Konvention feststellte, unterstrich der Gerichtshof, dass das Gebiet der künstlichen Fortpflanzung, das von besonders dynamischen wissenschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen geprägt ist, von den Staaten weiter überprüft werden muss.
Angesichts seiner Schlussfolgerungen unter Artikel 8 sah es der Gerichtshof nicht als notwendig an, die Beschwerde separat unter Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 zu prüfen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 03.11.2011
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online