21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil24.11.2011

EGMR: Siche­rungs­ver­wahrung ohne gerichtliche Vollstre­ckungs­a­n­ordnung verstößt gegen Menschen­rechts­kon­ventionBundesrepublik zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt

Die Unterbringung eines Straftäters in der Siche­rungs­ver­wahrung nach Verbüßung seiner Haftstrafe ohne gerichtliche Vollstre­ckungs­a­n­ordnung stellt eine Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls, Jakob Schönbrod, ist deutscher Staats­an­ge­höriger, 1933 geboren. Er ist vielfach vorbestraft und hat viele Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Im Mai 1996 verurteilte ihn das Landgericht Koblenz wegen gemein­schaftlich begangenen bewaffneten Raubüberfalls zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Zugleich ordnete das Gericht seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an; dieser Teil des Urteils wurde aber später aufgehoben, da seine Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung bereits mit einem früheren Urteil 1978 angeordnet worden war.

Gericht ordnet aufgrund zweier Sachver­stän­di­gen­gut­achten Siche­rungs­ver­wahrung an

Nach der vollständigen Verbüßung seiner Haftstrafe am 7. Juni 2005 blieb Jakob Schönbrod in der JVA Aachen in der Siche­rungs­ver­wahrung. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts Aachen das Verfahren zur Entscheidung über die Vollstreckung der Siche­rungs­ver­wahrung zwar bereits eingeleitet, aber noch keinen formalen Beschluss getroffen. Erst am 30. März 2006 ordnete das Gericht die Vollstreckung der 1978 angeordneten Siche­rungs­ver­wahrung an. Es stützte sich auf eine Befragung Jakob Schönbrods, seines Anwalts und des Direktors der JVA Aachen sowie auf zwei Sachver­stän­di­gen­gut­achten und befand, dass Jakob Schönbrod trotz seines fortge­schrittenen Alters von 72 Jahren einen Hang zur Begehung schwerer Straftaten habe. Seine Berufung blieb erfolglos und am 21. September 2006 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, Jakob Schönbrods Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Anordnung seiner Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung zur Entscheidung anzunehmen. Im Dezember 2007 entschied das Landgericht Aachen, die Anordnung seiner Siche­rungs­ver­wahrung zur Bewährung auszusetzen und im März 2008 wurde Jakob Schönbrod entlassen.

Beschwer­de­führer sieht sich aufgrund der Siche­rungs­ver­wahrung in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt

Jakob Schönbrod rügte, dass seine Siche­rungs­ver­wahrung gegen Artikel 5 § 1 verstoßen habe, unter anderem weil er aufgrund seines fortge­schrittenen Alters nicht mehr gefährlich gewesen sei. Die Beschwerde wurde am 11. November 2006 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung im Sinne von Artikel 5 § 1 zulässig

Der Gerichtshof zeigte sich überzeugt, dass die Siche­rungs­ver­wahrung Jakob Schönbrods hinsichtlich ihrer Begründung als Freiheits­ent­ziehung „nach Verurteilung“ durch ein zuständiges Gericht im Sinne von Artikel 5 § 1 (a) zulässig war. Er war nicht über die zum Zeitpunkt seiner Tat und Verurteilung zulässige Höchstdauer hinaus in der Siche­rungs­ver­wahrung untergebracht gewesen. Die Entscheidungen der für den Strafvollzug zuständigen deutschen Gerichte, ihn nicht zu entlassen, standen insofern im Einklang mit der Zielsetzung des Gerichts, das ihn verurteilt hatte, als beide darauf ausgerichtet waren, ihn von der Begehung weiterer Straftaten, wie etwa bewaffneter Raubüberfälle, abzuhalten. Jakob Schönbrod hatte ferner nicht nachgewiesen, dass die Sachver­stän­di­gen­gut­achten, auf die sich die deutschen Gerichte gestützt hatten und die ihm bescheinigten, dass er trotz seines Alters und seines Gesund­heits­zu­stands in der Lage sei, schwere Straftaten zu begehen, unzureichend begründet waren.

Gerichtshof bemängelt fehlen gerichtliche Anordnung zur Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nach vollständiger Verbüßung der Haftstrafe

Der Gerichtshof stellte aber fest, dass Jakob Schönbrod mehr als neun Monate nach der vollständigen Verbüßung seiner Haftstrafe ohne gerichtliche Anordnung in der Siche­rungs­ver­wahrung untergebracht war, da während dieses Zeitraums noch keine Entscheidung über die Notwendigkeit der Vollstreckung der Maßregel getroffen war. Der Gerichtshof zeigte sich bereit anzuerkennen, dass dieser Umstand nach deutschem Recht zulässig war. So hatten die deutschen Gerichte argumentiert, dass es ausreiche, dass das für die Straf­voll­streckung zuständige Gericht mit der Untersuchung dieser Frage begonnen habe.

Gericht bejaht Verstoß gegen Menschen­rechts­kon­vention – Verzögerungen im Verfahren hat ausschließlich zuständiges Gericht und Staats­an­walt­schaft zu verantworten

Allerdings hob der Gerichtshof hervor, dass nach seiner Rechtsprechung die Zügigkeit, mit der die Gerichte nach dem Ablauf einer Haftanordnung eine neue Anordnung erlassen, einer der entscheidenden Gesichtspunkte zur Beurteilung der Frage ist, ob eine Freiheits­ent­ziehung – ungeachtet ihrer Vereinbarkeit mit dem inner­staat­lichen Recht – als willkürlich gelten muss. Nichts wies darauf hin, dass Jakob Schönbrod zu den Verzögerungen im Verfahren beigetragen hatte, aufgrund derer ihm für einen erheblichen Zeitraum ohne gerichtliche Anordnung die Freiheit entzogen worden war. Für diese Verzögerungen waren vielmehr das zuständige Gericht und die Staats­an­walt­schaft verantwortlich. Angesichts dieser Überlegungen kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Unterbringung Jakob Schönbrods in der Siche­rungs­ver­wahrung nach der Verbüßung seiner Haftstrafe im Juni 2005 und bis zur gerichtlichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung im März 2006 als willkürlich gelten musste und somit gegen Artikel 5 § 1 verstieß.

Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt

Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Jakob Schönbrod 5.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden sowie 1.015,96 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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