21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil13.01.2011

EGMR bekräftigt Rechtsprechung zu Unzulässigkeit der nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrungDeutschland zur finanziellen Entschädigung verpflichtet

Die nachträglich verlängerte Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung über die zur Tatzeit zulässige Höchstdauer hinaus stellt eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit und eine Verletzung des Grundsatzes "keine Strafe ohne Gesetz" gemäß Artikel 5 § 1und Artikel 7 § 1 der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und sprach drei in Deutschland verurteilten ehemaligen Strafgefangenen finanziell Entschädigung zu.

Die drei Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls sind deutsche Staatsbürger. Zwei von Ihnen sind derzeit in der JVA Aachen in Haft; ein Beschwer­de­führer lebt in Freiburg.

Hintergrund zur Verurteilung

Alle drei sind mehrfach vorbestraft und wurden zuletzt zu Haftstrafen wegen schwerer Straftaten verurteilt: K. wurde im Mai 1993 vom Landgericht Bochum wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. M. wurde im Juli 1991 vom Landgericht Duisburg wegen gefährlicher Körper­ver­letzung in Tateinheit mit gemein­schaft­licher Nötigung, wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körper­ver­letzung, wegen gemein­schaft­licher räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körper­ver­letzung und gemein­schaft­licher Nötigung sowie wegen versuchter sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körper­ver­letzung, begangen 1990, zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von sechs Jahren verurteilt. S. wurde im März 1985 vom Landgericht Stuttgart wegen Vergewaltigung in zwei Fällen sowie wegen Entführung, versuchter Vergewaltigung und Freiheits­be­raubung, begangen 1984, zu fünf Jahren Haft verurteilt. In allen drei Fällen ordneten die Gerichte zugleich die Unterbringung der Beschwer­de­führer in der Sicherungsverwahrung an.

Siche­rungs­ver­wahrung allen drei Fällen über Gesamtdauer von zehn Jahren hinaus in verlängert

Nach Verbüßung ihrer Freiheits­s­trafen wurden alle drei Beschwer­de­führer in der Siche­rungs­ver­wahrung untergebracht, deren Fortdauer von den Gerichten mehrfach angeordnet wurde. In allen drei Fällen verlängerten die Gerichte die Siche­rungs­ver­wahrung der Beschwer­de­führer über die Gesamtdauer von zehn Jahren hinaus. Sie stützten sich dabei in den Fällen von K. und M. auf psychiatrische Sachver­stän­di­gen­gut­achten und im Fall von S. auf ein neurologisches Sachver­stän­di­gen­gut­achten, die alle feststellten, dass von den Beschwer­de­führern im Falle ihrer Freilassung weitere schwere Straftaten mit Folge erheblicher psychischer oder körperlicher Schäden der Opfer zu erwarten seien.

Gerichte berufen sich auf § 67 d Absatz 3 des Straf­ge­setz­buches

Die Gerichte beriefen sich auf § 67 d Absatz 3 des Straf­ge­setz­buches (StGB) in seiner Fassung nach der Änderung von 1998. Mit der Änderung, die auch auf die vor der Neuregelung angeordneten Fälle von Siche­rungs­ver­wahrung anzuwenden war, wurde die vorher vorgeschriebene Höchstgrenze von zehn Jahren bei einer erstmalig angeordneten Siche­rungs­ver­wahrung gestrichen.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht nimmt Beschwerden nicht zur Entscheidung

Alle drei Beschwer­de­führer legten Verfas­sungs­be­schwerden gegen diese Gericht­s­ent­schei­dungen ein, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht zur Entscheidung annahm. In den Fällen von S. und K. berief sich das Gericht, im März 2004 bzw. Januar 2007, auf sein Leiturteil vom 5. Februar 2004, in dem es festgestellt hatte, dass § 67 d Absatz 3 StGB mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

OLG Köln hält Ausführungen des EGMR zu nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung in zwei Fällen für nicht anwendbar

In späteren Urteilen, im Juli bzw. August 2010, lehnte es das Oberlan­des­gericht Köln ab, die Unterbringung von M. und K. in der Siche­rungs­ver­wahrung im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall M. gegen Deutschland für beendet zu erklären, in dem der Gerichtshof festgestellt hatte, dass die nachträgliche Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung des Beschwer­de­führers gegen Artikel 5 § 1 und Artikel 7 § 1 EMRK verstieß (vgl. Oberlan­des­gericht Köln, Beschluss v. 14.07.2010 - 2 Ws 431/10 -). In den Fällen von M. und K. befand das Oberlan­des­gericht Köln, dass das geltende deutsche Recht nicht im Einklang mit diesem Urteil ausgelegt werden könne und dass es folglich Aufgabe des Gesetzgebers sei, das Urteil umzusetzen.

OLG Karlsruhe erklärt Siche­rungs­ver­wahrung im Fall S. für beendet

Im Gegensatz dazu erklärte das Oberlan­des­gericht Karlsruhe im September 2010 die Unterbringung von S. in der Siche­rungs­ver­wahrung für beendet und ordnete seine Führungs­aufsicht an. Das Gericht argumentierte, dass das deutsche Strafrecht im Einklang mit dem Urteil im Fall M. gegen Deutschland ausgelegt werden könne. Folglich stellte es im Hinblick auf die Siche­rungs­ver­wahrung fest, dass die rückwirkende Anwendung einer neuen rechtlichen Bestimmung zum Nachteil der betroffenen Person unzulässig sei und das zur Tatzeit gültige Gesetz Anwendung finden müsse. S. wurde am selben Tag entlassen und steht seitdem unter ständiger Polizei­be­ob­achtung.

Beschwer­de­führer halten Unterbringung in Siche­rungs­ver­wahrung nach verbüßter Freiheits­s­trafen für unzulässig

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 5 § 1 und Artikel 7 § 1 beklagten sich alle drei Beschwer­de­führer über ihre Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung im Anschluss an die vollständige Verbüßung ihrer jeweiligen Freiheits­s­trafen über die zur Tatzeit zulässige Höchstdauer hinaus. Die Beschwerde von K. wurde am 17. April 2007 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt, die Beschwerde von M.’ wurde am 24. April 2007 und die Beschwerden von S., über die der Gerichtshof zusammen in einem Urteil entschied, wurden am 10. Juli 2004 bzw. am 4. September 2007 eingelegt.

Unterbringung in Siche­rungs­ver­wahrung vor Ablauf der Zehnjahresfrist im Sinne von Artikel 5 § 1 (a) zulässig

Alle der Fälle waren, hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs der Geschehnisse, Folgefälle zum Fall M. gegen Deutschland. Der Gerichtshof sah folglich keinen Grund, von seinen Schluss­fol­ge­rungen in diesem Urteil abzuweichen. Wie im Fall M. gegen Deutschland war die Unterbringung der Beschwer­de­führer in der Siche­rungs­ver­wahrung vor Ablauf der Zehnjahresfrist als Freiheitsentzug „nach Verurteilung“ durch ein zuständiges Gericht im Sinne von Artikel 5 § 1 (a) zulässig.

Siche­rungs­ver­wahrung über Zehnjahresfrist hinaus nicht gerechtfertigt

Im Hinblick auf die Siche­rungs­ver­wahrung über die Zehnjahresfrist hinaus stellte der Gerichtshof hingegen fest, dass es keinen ausreichenden Kausa­l­zu­sam­menhang zwischen der Verurteilung der Beschwer­de­führer und ihrem fortdauernden Freiheitsentzug gab, um Artikel 5 § 1 (a) zu genügen. Zum Zeitpunkt, als die zuständigen Gerichte die Unterbringung der Beschwer­de­führer in der Siche­rungs­ver­wahrung anordneten, bedeutete die jeweilige Entscheidung, dass sie nur für eine klar festge­schriebene Höchstdauer in dieser Form der Freiheits­ent­ziehung bleiben konnten. Ohne die Änderung des StGB 1998 hätten die Straf­voll­stre­ckungs­kammern der jeweils zuständigen Gerichte die Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung nicht verlängern können.

Die fortwährende Siche­rungs­ver­wahrung der Beschwer­de­führer war auch nicht nach einem der anderen Unterabsätze von Artikel 5 § 1 zulässig. Insbesondere war sie nicht gerechtfertigt durch die von den Gerichten festgestellte Gefahr, dass die Beschwer­de­führer im Falle ihrer Freilassung weitere schwere Straftaten begehen könnten, da diese potentiellen Straftaten nicht konkret und spezifisch genug waren, um Artikel 5 § 1 (c) zu genügen.

Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt

Der Gerichtshof kam daher zu dem Schluss, dass die Siche­rungs­ver­wahrung der Beschwer­de­führer über die Zehnjahresfrist hinaus Artikel 5 § 1 verletzt bzw. verletzte. Der Gerichtshof begrüßte, dass die deutschen Gerichte die Unterbringung S. in der Siche­rungs­ver­wahrung im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs beendet hatten. Seine Freilassung ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass er im Hinblick auf seine Siche­rungs­ver­wahrung über die Zehnjahresfrist hinaus weiterhin behaupten kann, Opfer einer Verletzung von Artikel 5 zu sein.

Auch Siche­rungs­ver­wahrung ist Strafe im Sinne von Artikel 7 § 1

Auch im Hinblick auf die Beschwerden gemäß Artikel 7 § 1 bezog sich der Gerichtshof auf sein Urteil im Fall M. gegen Deutschland. Darin war er zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Siche­rungs­ver­wahrung um eine Strafe im Sinne von Artikel 7 § 1 handelt. Diese Form der Unterbringung bedeutet genau wie eine gewöhnliche Haftstrafe einen Freiheitsentzug und in der Praxis sind Häftlinge in der Siche­rungs­ver­wahrung in gewöhnlichen Gefängnissen untergebracht. Zwar werden ihnen Verbesserungen bei den Haftbedingungen eingeräumt, was jedoch nichts an der grundlegenden Ähnlichkeit zwischen dem Vollzug einer normalen Haftstrafe und einer Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung ändert.

Gesetzlichen Neuregelung sieht keine Höchstdauer für die Siche­rungs­ver­wahrung mehr vor

Nach der gesetzlichen Neuregelung von 1998 gab es keine Höchstdauer mehr für die Siche­rungs­ver­wahrung und die Bedingung für ihre Aussetzung zur Bewährung – nämlich, dass vom Straftäter keine Gefahr mehr ausgehen darf – war schwer zu erfüllen. Mithin handelte es sich um eine der härtesten Maßnahmen, die nach dem StGB angewendet werden konnten.

Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung stellt zusätzliche Strafe dar

Da die Beschwer­de­führer nach der Rechtslage zur Tatzeit nur für eine Höchstdauer von zehn Jahren in der Siche­rungs­ver­wahrung hätten untergebracht werden können, stellte die Verlängerung eine zusätzliche Strafe dar, die ihnen nachträglich auferlegt worden war. Der Gerichtshof kam daher zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Artikel 7 § 1 vorlag.

EGMR mahnt deutsche Gerichte zur Umsetzung der Auslegungen des EGMR aus dem Fall M vom 17. Dezember 2009

Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass das Oberlan­des­gericht Köln die Unterbringung von M. und K. in der Siche­rungs­ver­wahrung verlängert hatte, obwohl dem Gericht angesichts des Urteils im Fall M. gegen Deutschland bewusst war, dass diese nachträgliche Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung einen Verstoß gegen die Konvention darstellte. Im Gegensatz dazu hatten mehrere andere Oberlan­des­ge­richte und der Bundes­ge­richtshof befunden, dass es möglich sei, das deutsche Recht im Einklang mit dem Urteil im Fall M. gegen Deutschland auszulegen. In ihren Stellungnahmen zu den Fällen von M. und K. hatte die deutsche Bundesregierung dieser Auffassung zugestimmt. Vor diesem Hintergrund sah es der Gerichtshof zwar nicht als notwendig an, auf spezifische oder allgemeine Maßnahmen hinzuweisen, die Deutschland in der Umsetzung der Urteile in den Fällen von M. und K. zu treffen hat. Allerdings mahnte er die deutschen Behörden, insbesondere die Gerichte, ihre Verantwortung wahrzunehmen, das Recht der beiden Beschwer­de­führer auf Freiheit, eines der Kernrechte der Konvention, zügig umzusetzen.

Deutschland zur Zahlung von Entschädigungen verpflichtet

Nach Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland K. 30.000 Euro, M. 25.000 Euro und S. 70.000 für den erlittenen immateriellen Schaden zu zahlen hat.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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