21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss15.09.2011

BVerfG: Zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung in so genanntem "Altfall" unzulässigSofern Unter­brin­gungs­vor­aus­set­zungen nicht erfüllt werden, ist unverzügliche Entlassung der Betroffenen anzuordnen

Bei der Siche­rungs­ver­wahrung in so genannten "Altfällen" ist aufgrund der besonderen Schwere des Grund­recht­s­ein­griffs das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß des Thera­pie­un­ter­brin­gungs­ge­setzes für die Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung unverzüglich zu prüfen und - falls diese nicht gegeben sind - die sofortige Freilassung der betroffenen Siche­rungs­ver­wahrten anzuordnen. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor. Die Verfas­sungs­be­schwerde eines verurteilten Sexual­straf­täters gegen die zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung hatte damit Erfolg.

Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls wurde im Jahr 1994 wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von fünf Jahren verurteilt. Zugleich wurde gegen ihn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die zum Zeitpunkt seiner Verurteilung geltende zehnjährige Höchstfrist für die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung wurde zum 31. Januar 1998 aufgehoben. Der Wegfall der Befristung betraf auch alle zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neureglung bereits angeordneten und noch nicht erledigten Fälle der Siche­rungs­ver­wahrung (so genannte „Altfälle“). Im April 2009 befand sich der Beschwer­de­führer seit zehn Jahren in der Siche­rungs­ver­wahrung. Auf der Grundlage zweier Sachver­stän­di­gen­gut­achten, die eine bei dem Beschwer­de­führer diagnostizierte dissoziale Persön­lich­keits­s­törung und ein sehr hohes Rückfallrisiko bescheinigten, ordnete das Landgericht im Juni 2010 die Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung an.

Siche­rungs­ver­wahrung darf gemäß Entscheidung des BVerfG nur noch in Ausnahmen, bei hochgradiger Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexual­straftaten angeordnet werden

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 alle Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheits­grundrecht erklärt. Darüber hinaus hat es die Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung über die zehnjährige Höchstfrist hinaus auch für unvereinbar mit dem rechts­s­taat­lichen Vertrau­ens­schutzgebot erklärt. Nach den getroffenen Überg­angs­re­ge­lungen darf in diesen „Altfällen“ die Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexual­straftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Absatz 1 Nr. 1 des Thera­pie­un­ter­brin­gungs­ge­setzes (ThUG) leidet.

Oberlan­des­gericht ordnet Entlassung des Beschwer­de­führers aus der Siche­rungs­ver­wahrung zum Ende des Jahres 2011 an

Im Juni 2011 hob das Oberlan­des­gericht auf der Grundlage weiterer Sachver­stän­di­gen­gut­achten den angefochtenen Beschluss des Landgerichts auf und ordnete die Entlassung des Beschwer­de­führers aus der Siche­rungs­ver­wahrung zum 19. Dezember 2011 an. Ausweislich der aktuellen Gutachten leide der Beschwer­de­führer nicht an einer psychischen Störung i. S. d. § 1 Absatz 1 Nr. 1 ThUG. Diese liege erst vor, wenn die psychische Störung das Gewicht einer schweren seelischen Abartigkeit im Sinne der gesetzlichen Regel zur Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) erreiche. Das sei hier nicht der Fall. Die Freilassung des Beschwer­de­führers werde auf den späteren Zeitpunkt bestimmt, um die Durchführung der erforderlichen Entlas­sungs­vor­be­rei­tungen zu ermöglichen.

BVerfG: Beschwer­de­führer in Freiheits­grundrecht und dem ihm zukommenden Vertrau­ens­schutz verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts aufgehoben, weil sie dem Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht und dem ihm zukommenden Vertrau­ens­schutz nicht hinreichend Rechnung tragen, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Der Beschluss des Landgerichts über die Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung des Beschwer­de­führers genügt nicht den besonderen Anforderungen, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht für die Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung an eine Fortdau­e­r­a­n­ordnung in den so genannten “Altfällen“ stellt.

OLG hätte unverzügliche Entlassung des Beschwer­de­führers anordnen müssen

Auch die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts verletzt den Beschwer­de­führer in seinen oben genannten verfas­sungs­mäßigen Rechten. Nachdem das Gericht die besonderen Voraussetzungen für eine Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung auf der Grundlage der Weiter­gel­tungs­a­n­ordnung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts verneint hat, hätte es die unverzügliche Entlassung des Beschwer­de­führers anordnen müssen, statt diese um mehr als sechs Monate hinaus­zu­schieben.

Zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung zum Zweck der Durchführung von Entlas­sungs­vor­be­rei­tungen nicht zulässig

Nach Maßgabe der vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 getroffenen Überg­angs­re­ge­lungen haben die Vollstre­ckungs­ge­richte in den so genannten „Altfällen“ aufgrund der besonderen Schwere des Grund­recht­s­ein­griffs das Vorliegen der Voraussetzungen der Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung unverzüglich zu prüfen und - falls diese nicht gegeben sind - die Freilassung der betroffenen Siche­rungs­ver­wahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 anzuordnen. Diese allein dem Prüfungsaufwand geschuldete Fristsetzung bedeutet nicht, dass der Entlas­sungs­termin innerhalb des verbleibenden Zeitraums bis zum Ende des Jahres 2011 nach Ermessen zu bestimmen wäre. Halten die zuständigen Gerichte die Unter­brin­gungs­vor­aus­set­zungen im Zeitpunkt der Entscheidung nicht für gegeben, haben sie die unverzügliche Entlassung der Betroffenen anzuordnen. In den so genannten „Altfällen“, in denen die Unterbringung auch gegen das Vertrau­ens­schutzgebot verstößt, kommt eine zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung zum Zweck der Durchführung von Entlas­sungs­vor­be­rei­tungen daher nicht in Betracht. Dem Resozi­a­li­sie­rungs­an­spruch der Betroffenen ist in diesen Fällen, soweit im Einzelfall möglich und notwendig, durch eine dem Fehlen ausreichender Entlas­sungs­vor­be­rei­tungen angepasste engmaschige Begleitung und geeignete Weisungen im Rahmen der kraft Gesetzes eintretenden Führungs­aufsicht Rechnung zu tragen.

Spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle sind im Zuge der Eingruppierung gemäß des Thera­pie­un­ter­brin­gungs­ge­setzes zu berücksichtigen

Im Hinblick auf die vom Landgericht erneut vorzunehmende Prüfung weist das Gericht zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „psychischen Störung“ i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG allerdings auf Folgendes hin: Der Gesetzgeber hat mit der Unterbringung nach dem Thera­pie­un­ter­brin­gungs­gesetz ersichtlich eine neue eigenständige Kategorie der Unterbringung psychisch gestörter, für die Allgemeinheit gefährlicher Personen geschaffen, die das Verständnis der psychischen Störung nach der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention aufgreift und unterhalb der Schwelle der Vorschriften zur Schuldfähigkeit anzusiedeln ist. Dementsprechend setzt der Begriff der psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG gerade nicht voraus, dass der Grad einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB erreicht wird. Vielmehr sind auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle unter diesen Begriff zu fassen; gleiches gilt auch für die dissoziale Persön­lich­keits­s­törung. Entscheidend ist hier der Grad der objektiven Beein­träch­tigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht, der anhand des gesamten - auch des strafrechtlich relevanten - Verhaltens des Betroffenen zu bestimmen ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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