21.11.2024
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Dokument-Nr. 11579

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Urteil04.05.2011Bundesverfassungsgericht2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 571/10, 2 BvR 1152/10
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 128, 326Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 128, Seite: 326
  • DÖV 2011, 572Zeitschrift: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), Jahrgang: 2011, Seite: 572
  • EuGRZ 2011, 297Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ), Jahrgang: 2011, Seite: 297
  • JuS 2011, 854Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2011, Seite: 854
  • NJW 2011, 1931Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2011, Seite: 1931
  • NStZ 2011, 450Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), Jahrgang: 2011, Seite: 450
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil04.05.2011

Bundes­ver­fassungs­gericht erklärt nachträgliche Sicherungs­verwahrung für verfas­sungs­widrigGesetzgeber muss bis 2013 neue Regelungen schaffen

Das Bundes­ver­fassungs­gericht hat die Regelungen zur nachträglichen Sicherungs­verwahrung von Straftätern für verfas­sungs­widrig erklärt.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hatte über die Verfas­sungs­be­schwerden von vier Siche­rungs­ver­wahrten zu entscheiden, die sich gegen die Fortdauer ihrer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach Ablauf der früher geltenden zehnjährigen Höchstfrist (Siche­rungs­ver­wahrung I) bzw. gegen die nachträgliche Anordnung ihrer Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung (Siche­rungs­ver­wahrung II) wenden.

Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung nicht mit Freiheits­grundrecht vereinbar

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass alle Vorschriften des Straf­ge­setz­buches und des Jugend­ge­richts­ge­setzes über die Anordnung und Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung mit dem Freiheits­grundrecht der Untergebrachten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG nicht vereinbar sind, weil sie den Anforderungen des verfas­sungs­recht­lichen Abstandsgebots nicht genügen.

Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung verletzen rechts­s­taat­liches Vertrau­ens­schutzgebot

Überdies verletzen die mit den Verfas­sungs­be­schwerden angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung über die frühere Zehnjah­res­höchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung im Erwachsenen- und Jugend­s­trafrecht das rechts­s­taatliche Vertrau­ens­schutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

BVerfG trifft Überg­angs­re­ge­lungen bis zum Inkrafttreten gesetzlicher Neuregelung

Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31. Mai 2013, hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die weitere Anwendbarkeit der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften angeordnet, und im Wesentlichen folgende Überg­angs­re­ge­lungen getroffen:

Nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung in so genannten Altfällen nur noch bei hochgradiger Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexual­straftaten zulässig

1. In den so genannten Altfällen, in denen die Unterbringung der Siche­rungs­ver­wahrten über die frühere Zehnjahresfrist hinaus fortdauert, sowie in den Fällen der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung darf die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung bzw. deren Fortdauer nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexual­straftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Absatz 1 Nr. 1 des Thera­pie­un­ter­brin­gungs­ge­setzes (ThUG) leidet. Die Vollstre­ckungs­ge­richte haben unverzüglich das Vorliegen dieser Voraussetzungen der Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung zu prüfen und anderenfalls die Freilassung der betroffenen Siche­rungs­ver­wahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 anzuordnen.

Anordnung und Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung bedürfen strikter Prüfung der Verhält­nis­mä­ßigkeit

2. Die übrigen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung dürfen während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Prüfung der Verhält­nis­mä­ßigkeit angewandt werden, die in der Regel nur gewahrt ist, wenn die Gefahr künftiger schwerer Gewalt- oder Sexual­straftaten des Betroffenen besteht.

Beschwer­de­führer in Freiheits­grundrecht und verfas­sungs­recht­lichen Vertrau­ens­schutz­be­langen verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die mit den Verfas­sungs­be­schwerden angefochtenen Entscheidungen, die auf den verfas­sungs­widrigen Vorschriften beruhen, aufgehoben, weil sie die Beschwer­de­führer in ihrem Freiheits­grundrecht und ihren verfas­sungs­recht­lichen Vertrau­ens­schutz­be­langen verletzen, und die Sachen an die Fachgerichte zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Völker­rechts­freundliche Auslegung des Grundgesetzes

1. Die Rechtskraft der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 5. Februar 2004 durch die die Aufhebung der früher für die Siche­rungs­ver­wahrung geltenden zehnjährigen Höchstgrenze und die Anwendung dieser Neuregelung auf die so genannten Altfälle für verfas­sungsgemäß erklärt worden sind, stellt kein der Zulässigkeit der Verfas­sungs­be­schwerden entge­gen­ste­hendes Prozess­hin­dernis dar. Denn die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, stehen recht­s­er­heb­lichen Änderungen gleich, die zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts führen können. So verhält es sich hier im Hinblick auf das Urteil des EGMR vom 17. Dezember 2009, durch das dieser festgestellt hat, dass die rückwirkende Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung sowohl gegen das Recht auf Freiheit aus Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als auch gegen das in Art. 7 EMRK normierte Rückwir­kungs­verbot verstoßen.

2. Die Europäische Menschen­rechts­kon­vention steht zwar innerstaatlich im Rang unter dem Grundgesetz. Die Bestimmungen des Grundgesetzes sind jedoch völker­rechts­freundlich auszulegen. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfas­sungs­rechts als Ausle­gungs­hilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechts­s­taat­lichen Grundsätzen des Grundgesetzes.

Die völker­rechts­freundliche Auslegung erfordert keine schematische Angleichung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention, sondern ein Aufnehmen ihrer Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetztes vereinbar ist.

Verletzung des Freiheits­grund­rechts - Abstandsgebot

Der in der Siche­rungs­ver­wahrung liegende schwerwiegende Eingriff in das Freiheits­grundrecht ist nur nach Maßgabe strikter Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung und unter Wahrung strenger Anforderungen an die zugrunde liegenden Entscheidungen und die Ausgestaltung des Vollzugs zu rechtfertigen. Die vorhandenen Regelungen über die Siche­rungs­ver­wahrung erfüllen nicht die verfas­sungs­recht­lichen (Mindest-)Anforderungen an die Ausgestaltung des Vollzugs.

Die grundlegend unter­schied­lichen verfas­sungs­recht­lichen Legiti­ma­ti­o­ns­grundlagen und Zwecksetzungen von Freiheitsstrafe und Siche­rungs­ver­wahrung erfordern einen deutlichen Abstand des Freiheits­entzugs durch Siche­rungs­ver­wahrung zum Strafvollzug (sog. Abstandsgebot). Während die Freiheitsstrafe der Vergeltung schuldhaft begangener Straftaten dient, verfolgt der Freiheitsentzug des Siche­rungs­ver­wahrten allein präventive Zwecke, nämlich die Verhinderung zukünftiger Straftaten. Er beruht nur auf einer Gefähr­lich­keits­prognose und legt dem Betroffenen im Sicher­heits­in­teresse der Allgemeinheit gleichsam ein Sonderopfer auf. Die Siche­rungs­ver­wahrung ist daher nur dann zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Ausgestaltung dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der „äußeren“ Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden. Dem muss durch einen freiheit­s­o­ri­en­tierten und thera­pie­ge­richteten Vollzug Rechnung getragen werden, der den allein präventiven Charakter der Maßregel sowohl gegenüber dem Untergebrachten als auch gegenüber der Allgemeinheit deutlich macht. Hierzu bedarf es eines Gesamtkonzepts der Siche­rungs­ver­wahrung mit klarer therapeutischer Ausrichtung auf das Ziel, die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr zu minimieren und auf diese Weise die Dauer der Freiheits­ent­ziehung auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren. Die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit muss sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmen. Diese freiheit­s­o­ri­en­tierte Wahrung des Abstandsgebots trägt auch den Wertungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 7 Abs. 1 EMRK Rechnung, der in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 der Siche­rungs­ver­wahrung aufgrund des fehlenden Abstands zum Strafvollzug Strafcharakter beigemessen und auf die Notwendigkeit besonderer individueller Unterstützung des Siche­rungs­ver­wahrten abgestellt hat.

Siche­rungs­ver­wahrung darf nur als letztes Mittel angeordnet und vollzogen werden

Das verfas­sungs­rechtliche Abstandsgebot ist für alle staatliche Gewalt verbindlich und richtet sich zunächst an den Gesetzgeber, dem aufgegeben ist, ein entsprechendes Gesamtkonzept der Siche­rungs­ver­wahrung zu entwickeln und normativ festzuschreiben. Dieses muss zumindest folgende Aspekte umfassen: Die Siche­rungs­ver­wahrung darf nur als letztes Mittel angeordnet und vollzogen werden. Etwa erforderliche therapeutische Behandlungen müssen schon während des vorangehenden Strafvollzugs so zeitig beginnen und intensiv durchgeführt werden, dass sie möglichst schon vor dem Strafende abgeschlossen werden. Spätestens zu Beginn des Vollzugs der Siche­rungs­ver­wahrung hat eine umfassende, modernen wissen­schaft­lichen Anforderungen entsprechende Behand­lungs­un­ter­suchung stattzufinden, auf deren Grundlage ein Vollzugsplan zu erstellen und eine intensive therapeutische Betreuung des Siche­rungs­ver­wahrten durch qualifizierte Fachkräfte stattzufinden hat, die eine realistische Entlas­sungs­per­spektive eröffnet. Hierzu ist die Mitwirkung des Betroffenen durch gezielte Motiva­ti­o­ns­arbeit zu fördern. Das Leben in der Siche­rungs­ver­wahrung ist, um ihrem spezi­a­l­prä­ventiven Charakter Rechnung zu tragen, den allgemeinen Lebens­ver­hält­nissen anzupassen, soweit Sicher­heits­belange nicht entgegenstehen. Dies erfordert zwar keine vollständige räumliche Loslösung vom Strafvollzug, aber eine davon getrennte Unterbringung in besonderen Gebäuden und Abteilungen, die den therapeutischen Erfordernissen entsprechen, familiäre und soziale Außenkontakte ermöglichen und über ausreichende Perso­na­l­ka­pa­zitäten verfügen. Ferner muss das gesetzliche Konzept der Siche­rungs­ver­wahrung Vorgaben zu Vollzugs­lo­cke­rungen und zur Entlas­sungs­vor­be­reitung enthalten. Dem Untergebrachten muss zudem ein effektiv durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Durchführung der seine Gefährlichkeit reduzierenden Maßnahmen eingeräumt werden. Schließlich ist die Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung in mindestens jährlichen Abständen gerichtlich zu prüfen.

Institut der Siche­rungs­ver­wahrung ohne Wahrung des Abstandsgebots mit Freiheits­grundrecht der Untergebrachten nicht zu vereinbaren

Diesen Anforderungen genügen die vorhandenen Regelungen über die Siche­rungs­ver­wahrung und folglich auch deren tatsächlicher Vollzug nicht. Vielmehr hat der Gesetzgeber die Siche­rungs­ver­wahrung immer mehr ausgeweitet, ohne dem bereits im Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 5. Februar 2004 konkretisierten Abstandsgebot Rechnung zu tragen. Das Institut der Siche­rungs­ver­wahrung ist ohne Wahrung des Abstandsgebots insgesamt mit dem Freiheits­grundrecht der Untergebrachten nicht zu vereinbaren. Bundes- und Landes­ge­setzgeber stehen gemeinsam in der Pflicht, ein freiheit­s­o­ri­en­tiertes und thera­pie­ge­richtetes Gesamtkonzept der Siche­rungs­ver­wahrung zu entwickeln, das keine maßgeblichen Fragen der Entschei­dungsmacht von Exekutive oder Judikative überlässt, sondern deren Handeln in allen wesentlichen Bereichen bestimmt.

Verletzung des Vertrau­ens­schutz­gebotes

Zudem verletzten die mit den Verfas­sungs­be­schwerden angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung über die frühere Zehnjah­res­höchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung das rechts­s­taatliche Vertrau­ens­schutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Die Vorschriften enthalten einen schwerwiegenden Eingriff in das Vertrauen des betroffenen Personenkreises auf ein Ende der Siche­rungs­ver­wahrung nach Ablauf von zehn Jahren (in den so genannten Altfällen) bzw. auf ein Unterbleiben der Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung (in den Fällen ihrer nachträglichen Anordnung). Angesichts des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das Freiheits­grundrecht kommt den betroffenen Vertrau­ens­schutz­be­langen verfas­sungs­rechtlich ein besonders hohes Gewicht zu, das durch die Wertungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention noch verstärkt wird. Nach der Wertung von Art. 7 Abs. 1 EMRK hat der unzureichende Abstand des Vollzugs der Siche­rungs­ver­wahrung von dem der Freiheitsstrafe zur Folge, dass sich das Gewicht des Vertrauens der Betroffenen einem absoluten Vertrau­ens­schutz annähert. Des Weiteren sind auf Seiten der betroffenen Siche­rungs­ver­wahrten die Wertungen von Art. 5 EMRK zu berücksichtigen. Danach kommt - unter Berück­sich­tigung der Rechtsprechung des EGMR - eine Rechtfertigung der Freiheits­ent­ziehung in den hier in Rede stehenden Fällen der nachträglich verlängerten bzw. angeordneten Siche­rungs­ver­wahrung praktisch nur unter den Voraussetzungen einer psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK in Betracht. Die Vorschrift verlangt das Vorliegen einer zuverlässig nachgewiesenen und fortdauernden psychischen Störung. Die gesetzlichen Regelungen müssen ihre Feststellung als ausdrückliche Tatbe­stands­vor­aus­setzung vorsehen. Die Rechtfertigung der Freiheits­ent­ziehung setzt zudem eine Ausgestaltung der Unterbringung des Betroffenen voraus, die der Tatsache Rechnung trägt, dass er aufgrund einer psychischen Störung untergebracht ist.

Rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheits­ent­ziehung durch Siche­rungs­ver­wahrung nur in Ausnahmefällen

Unter Berück­sich­tigung dieser Wertungen und in Anbetracht des erheblichen Eingriffs in das Vertrauen der in ihrem Freiheits­grundrecht betroffenen Siche­rungs­ver­wahrten tritt der legitime gesetz­ge­be­rische Zweck der angegriffenen Vorschriften, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, weitgehend hinter das grundrechtlich geschützte Vertrauen des betroffenen Personenkreises zurück. Eine rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheits­ent­ziehung durch Siche­rungs­ver­wahrung kann daher nur noch als verhältnismäßig angesehen werden, wenn der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexual­straftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK erfüllt sind. Lediglich in solchen Ausnahmefällen kann noch von einem Überwiegen der öffentlichen Sicher­heits­in­teressen ausgegangen werden. Diesen Anforderungen genügen die hier in Rede stehenden Vorschriften nicht. Sie können auch nicht in einer Weise ausgelegt werden, dass ihre Verfas­sungs­mä­ßigkeit noch gewahrt ist. IV. Überg­angs­re­gelung

Nichti­g­er­klärung einschlägiger Normen würde Fehlen der Rechtsgrundlage für weitere Siche­rungs­ver­wahrung nachsichziehen

Zur Vermeidung eines „rechtlichen Vakuums“ hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die verfas­sungs­widrigen Vorschriften nicht für nichtig erklärt, sondern deren zeitlich befristete Weitergeltung angeordnet. Denn die Nichti­g­er­klärung der einschlägigen Normen hätte zur Folge, dass es für die weitere Siche­rungs­ver­wahrung an einer Rechtsgrundlage fehlte und alle in der Siche­rungs­ver­wahrung untergebrachten Personen sofort freigelassen werden müssten, was Gerichte, Verwaltung und Polizei vor kaum lösbare Probleme stellen würde.

Gericht legt Überg­angs­re­gelung zur Sicherstellung der Wahrung verfas­sungs­recht­licher Minde­st­an­for­de­rungen fest

Die Weiter­gel­tungs­a­n­ordnung muss im Hinblick auf den Umfang des vom Gesetzgeber zu erarbeitenden Gesamtkonzepts der Siche­rungs­ver­wahrung, die notwendige Schaffung zusätzlicher Perso­na­l­ka­pa­zitäten sowie die Durchführung der für eine räumliche Trennung von Maßregel- und Strafvollzug erforderlichen Maßnahmen zwei Jahre betragen. Angesichts des mit der Siche­rungs­ver­wahrung verbundenen Grund­recht­s­ein­griffs ist es jedoch geboten, eine Überg­angs­re­gelung zu treffen, die die Wahrung verfas­sungs­recht­licher Minde­st­an­for­de­rungen sicherstellt. Im Hinblick auf die Vorschriften, die mit dem Vertrau­ens­schutzgebot unvereinbar sind (III.), ist dabei auf das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Thera­pie­un­ter­brin­gungs­gesetz zurückzugreifen. Mit diesem Gesetz hat der deutsche Gesetzgeber unter Berücksichtung der besonderen Voraussetzungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention eine weitere Kategorie für die Unterbringung psychisch gestörter und aufgrund ihrer Straftaten potentiell gefährlicher Personen geschaffen, die auf den aktuellen psychischen Zustand der Betroffenen und ihre daraus resultierende Gefährlichkeit abstellt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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