Dokument-Nr. 11867
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- NJW 2011, 2711Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2011, Seite: 2711
- EGMR bekräftigt Rechtsprechung zu Unzulässigkeit der nachträglichen Verlängerung der SicherungsverwahrungEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil13.01.2011, 17792/07, 20008/07, 27360/04 und 42225/07
- 5. Strafsenat des BGH zur Sicherungsverwahrung: Keine "automatische" Entlassung konventionswidrig untergebrachter SicherungsverwahrterBundesgerichtshof, Beschluss09.11.2010, 5 StR 394/10/ 5 StR 440/10/ 5 StR 474/10
- Bundesverfassungsgericht erklärt nachträgliche Sicherungsverwahrung für verfassungswidrigBundesverfassungsgericht, Urteil04.05.2011, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 571/10, 2 BvR 1152/10
Bundesverfassungsgericht Beschluss08.06.2011
BVerfG: Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erneut erfolglosSicherungsverwahrung ist nur noch bei Erfüllung der besonderen Anforderungen an Verhältnismäßigkeit anzuordnen oder aufrechtzuerhalten
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem weiteren Fall die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Untergebrachten und des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebotes aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
Der Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls wurde 1987 wegen versuchten Mordes zu zwölf Jahren und 1997 wegen Totschlags zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Zum Zeitpunkt der zweiten Verurteilung war eine Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtlich (noch) nicht möglich, weil diese nach der damals geltenden Rechtslage mindestens drei vorsätzliche Straftaten voraussetzte. Erst der zum 1. April 1998 eingeführte § 66 Abs. 3 StGB ließ eine Anordnung der Sicherungsverwahrung bereits nach zwei vorsätzlichen Straftaten zu. Die Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung wurde 2004 eingeführt und mit der 2007 erfolgten Änderung von § 66 b Abs. 1 Satz 1 sowie der Einführung von § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB dahingehend erweitert, dass nunmehr die Sicherungsverwahrung auch dann nachträglich angeordnet werden durfte, wenn zum Zeitpunkt der Verurteilung wegen der Anlasstat aus Rechtsgründen keine primäre Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte. In Anwendung dieser neuen Rechtsgrundlage wurde im Jahr 2009 nachträglich die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Unterbringung in Sicherungsverwahrung bzw. deren Fortdauer darf nur noch unter Wahrung strikter Verhältnismäßigkeitsanforderungen angeordnet werden
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 alle Vorschriften des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht erklärt. Darüber hinaus hat es für die mit den dort zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerden konkret angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die früher geltende Höchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung - zu denen § 66 b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB nicht zählte - auch die Unvereinbarkeit mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot festgestellt. Nach Maßgabe der im Urteil vom 4. Mai 2011 getroffenen Übergangsregelungen darf auf der Grundlage dieser auch wegen Verstoßes gegen das Vertrauensschutzgebot für verfassungswidrig erklärten Vorschriften die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. deren Fortdauer nur noch unter Wahrung strikter Verhältnismäßigkeitsanforderungen angeordnet werden; nämlich, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Absatz 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) leidet.
Vom BVerfG festgesetzte höhere Anforderungen an nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung sind zu beachten
Mit der nun getroffenen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die im Urteil vom 4. Mai 2011 festgesetzten höheren Anforderungen an die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung immer dann gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - in das schutzwürdige Vertrauen des Betroffenen auf ein Unterbleiben seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eingegriffen wird. Die Gerichte sind daher bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gehalten, über die dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 zugrunde liegenden Fallgestaltungen hinaus auch in den anderen Konstellationen, in denen das schutzwürdige Vertrauen der Betroffenen in das Unterbleiben der Sicherungsverwahrung beeinträchtigt wird, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn die besonderen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit erfüllt sind. Ob diese Voraussetzungen im Fall des Beschwerdeführers gegeben sind, wird das Landgericht zu prüfen haben.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 28.06.2011
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
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