21.11.2024
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Dokument-Nr. 13341

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Urteil12.04.2012Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte43547/08
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • FamRZ 2012, 937Zeitschrift für das gesamte Familienrecht mit Betreuungsrecht (FamRZ), Jahrgang: 2012, Seite: 937
  • NJW 2013, 215Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2013, Seite: 215
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ergänzende Informationen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil12.04.2012

Verurteilung wegen Inzestbeziehung zwischen Geschwistern verstößt nicht gegen Menschen­rechts­kon­ventionEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte verneint Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Verurteilung eines Mannes zu einer Gefängnisstrafe wegen seiner Inzestbeziehung mit seiner jüngeren Schwester, die er, nachdem er in einer Pflegefamilie aufgewachsen war, erst als Erwachsener kennengelernt hatte und mit der er vier gemeinsame Kinder hat, für rechtmäßig erklärt. Der Gerichtshof entschied insbesondere, dass die deutschen Behörden im Umgang mit dieser Frage einen weiten Beurtei­lungs­spielraum hatten, da zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats kein Konsens hinsichtlich der Frage besteht, ob einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern eine Straftat darstellen. Im Übrigen hatten die deutschen Gerichte bei der Verurteilung des Beschwer­de­führers eine sorgfältige Abwägung der Argumente vorgenommen. Der Gerichtshof verneinte in diesem Fall eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8) der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK).

Der Beschwer­de­führer, Patrick Stübing, geboren 1976, ist deutscher Staats­an­ge­höriger und lebt in Leipzig. Als Siebenjähriger wurde er von einer Pflegefamilie adoptiert, nachdem er als Dreijähriger zunächst in einem Kinderheim untergebracht worden war. Nach seiner Adoption hatte er jahrelang keinen Kontakt zu seiner leiblichen Familie. Erst als er im Jahr 2000 wieder Kontakt zu seiner Herkunfts­familie aufnahm, erfuhr Patrick Stübing, dass er eine, 1984 geborene, leibliche Schwester hat. Nach dem Tod ihrer Mutter im Dezember 2000 entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen den Geschwistern. Sie lebten mehrere Jahre zusammen und bekamen zwischen 2001 und 2005 vier gemeinsame Kinder.

Deutsche Gerichte verurteilen Beschwer­de­führer wegen Inzests zur Freiheitsstrafe

Nach mehreren Vorstrafen wegen seiner Inzestbeziehung verurteilte das Amtsgericht Leipzig Patrick Stübing im November 2005 wegen Beischlafs zwischen Verwandten in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten. Unter Berufung auf ein Sachver­stän­di­gen­gut­achten, demzufolge seine Schwester eine ängstlich zurückgezogene Persön­lich­keitss­truktur habe und in hohem Maße von ihm abhängig sei, schlussfolgerte das Gericht, sie sei nur teilweise schuldfähig und sah in ihrem Fall von einer Strafe ab. Nachdem das Oberlan­des­gericht Dresden das Urteil bestätigt hatte, legte Patrick Stübing eine Verfas­sungs­be­schwerde gegen seine Verurteilung ein.

Strafbarkeit sexueller Beziehungen zwischen leiblichen Geschwistern stellt keinen Eingriff in Kernbereich privater Lebens­ge­staltung dar

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht wies die Verfas­sungs­be­schwerde mit Entscheidung vom 26. Februar 2008 mit einer Mehrheit der Stimmen zurück. Es vertrat die Auffassung, dass die Strafbarkeit des Beischlafs zwischen leiblichen Geschwistern nach dem deutschen Strafgesetzbuch keinen Eingriff in den Kernbereich privater Lebens­ge­staltung darstelle. Wichtigster Grund für die Strafbarkeit sei der Schutz von Ehe und Familie, da Inzest­ver­bin­dungen zu einer Überschneidung von Verwandt­schafts­ver­hält­nissen und sozialen Rollen­ver­tei­lungen führten. Darüber hinaus seien der Schutz der sexuellen Selbst­be­stimmung und die Gefahr erheblicher Schädigungen der aus einer solchen Beziehung hervor­ge­gangenen Kinder Gründe für das Verbot. Die in Frage stehende Strafnorm sei gerechtfertigt durch die Zusammenfassung dieser Strafzwecke vor dem Hintergrund der gesell­schaft­lichen Überzeugung, dass Inzest strafwürdig sei.

Beschwer­de­führer rügt Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Patrick Stübing rügte seine Verurteilung wegen Beischlafs zwischen Verwandten und machte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) geltend. Die Beschwerde wurde am 3. September 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Verurteilung des Beschwer­de­führers verfolgte legitimen Zweck

Der Gerichtshof schloss nicht aus, dass Patrick Stübings Verurteilung eine Beein­träch­tigung seines Familienlebens darstellte. In jedem Fall war zwischen den Parteien unumstritten, dass die Verurteilung einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 darstellte, das auch sein Sexualleben mit einschloss. Seine Verurteilung war nach dem deutschen Strafgesetzbuch, das sexuelle Beziehungen zwischen leiblichen Geschwistern unter Strafe stellt und auf den Schutz der Moral und der Rechte anderer abzielt, gesetzlich vorgeschrieben. Daher verfolgte die Verurteilung einen legitimen Zweck im Sinne von Artikel 8.

Sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern weder in der Rechtsordnung noch in der Gesellschaft im Allgemeinen anerkannt

Der Gerichtshof war der Auffassung, dass die deutschen Behörden bei der Entscheidung, wie mit Inzest­be­zie­hungen zwischen erwachsenen Geschwistern umzugehen sei, einen weiten Beurtei­lungs­spielraum hatten. Zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats besteht kein Konsens hinsichtlich der Frage, ob einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern eine Straftat darstellen. In einer Mehrheit der Staaten sind solche Beziehungen allerdings strafbar. Darüber hinaus verbieten alle vom Gerichtshof in einer rechts­ver­glei­chenden Untersuchung berück­sich­tigten Rechtssysteme, einschließlich derjenigen, die keine Strafbarkeit sexueller Beziehung vorsehen, die Ehe zwischen Geschwistern. Folglich besteht ein breiter Konsens dahingehend, dass sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern weder in der Rechtsordnung noch in der Gesellschaft im Allgemeinen anerkannt sind. Darüber hinaus gibt es keinen Beleg für die Annahme eines allgemeinen Trends zur Entkri­mi­na­li­sierung solcher Beziehungen. Schließlich berücksichtigte der Gerichtshof, dass der Fall eine Frage moralischer Maßstäbe betraf, in der Staaten nach seiner Rechtsprechung einen weiten Beurtei­lungs­spielraum haben, wenn zwischen den Staaten kein Konsens besteht.

BVerfG nimmt ausreichend sorgfältige Abwägung aller Argumente vor

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hatte eine sorgfältige Abwägung der Argumente für und gegen die Strafbarkeit sexueller Beziehungen zwischen Geschwistern vorgenommen und war zu der Auffassung gelangt, dass mehrere Strafzwecke zusam­men­ge­nommen die Verurteilung des Beschwer­de­führers rechtfertigten, darunter der Schutz der Familie, die sexuelle Selbst­be­stimmung und die öffentliche Gesundheit, vor dem Hintergrund der gesell­schaft­lichen Überzeugung, dass Inzest strafwürdig sei. Es hatte berücksichtigt, dass sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern Famili­en­strukturen, und folglich die Gesellschaft insgesamt, ernsthaft beeinträchtigen könnten. Die sorgfältige Prüfung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zeigte sich überdies auch darin, dass der Entscheidung eine ausführliche abweichende Meinung eines Richters beigefügt war.

Beurtei­lungs­spielraum bei Verurteilung seitens deutscher Gerichte nicht überschritten

Nach Überzeugung der deutschen Gerichte war Patrick Stübings Schwester im Alter von sechzehn Jahren nach dem Tod ihrer Mutter eine Beziehung mit dem sieben Jahre älteren Bruder eingegangen. Sie habe an einer schweren Persön­lich­keits­s­törung gelitten und sei in hohem Maße von ihm abhängig gewesen. Die deutschen Gerichte hatten die Schluss­fol­gerung gezogen, dass sie nur teilweise schuldfähig sei. Vor diesem Hintergrund befand der Gerichtshof, dass die von den deutschen Gerichten verfolgten Zwecke nicht unangemessen waren. Der Gerichtshof gelangte daher zu der Auffassung, dass die deutschen Gerichte ihren Beurtei­lungs­spielraum bei der Verurteilung Patrick Stübings nicht überschritten hatten. Folglich lag keine Verletzung von Artikel 8 vor.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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