21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss26.02.2008

Bundes­ver­fas­sungs­gericht bestätigt Inzest-VerbotKein Verstoß gegen das Recht auf sexuelle Selbst­be­stimmung

Die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB, die den Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Der Gesetzgeber hat seinen Entschei­dungs­spielraum nicht überschritten, indem er die Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests, den Schutz der in einer Inzestbeziehung "unterlegenen" Partner sowie ergänzend die Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzest­be­zie­hungen als ausreichend erachtet hat, das in der Gesellschaft verankerte Inzesttabu strafrechtlich zu sanktionieren.

Damit war die Verfassungsbeschwerde des wegen Beischlafs zwischen Verwandten gemäß § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB zu mehreren Freiheits­s­trafen verurteilten Beschwer­de­führers ohne Erfolg.

Der Richter Hassemer hat der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt. Nach seiner Auffassung steht die Norm mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Entscheidung des Gesetzgebers, den Geschwis­te­rinzest mit Strafe zu bewehren, ist nach dem in erster Linie anzulegenden Maßstab von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Recht auf sexuelle Selbst­be­stimmung) verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden.

1. Der Gesetzgeber beschränkt mit der Strafnorm des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB das Recht auf sexuelle Selbst­be­stimmung leiblicher Geschwister, indem er den Vollzug des Beischlafs mit Strafe bedroht. Damit werden zwar der privaten Lebens­ge­staltung insbesondere dadurch Grenzen gesetzt, dass bestimmte Ausdrucksformen der Sexualität zwischen einander nahe stehenden Personen pönalisiert werden. Darin liegt jedoch kein dem Gesetzgeber von vornherein verwehrter Eingriff in den Kernbereich privater Lebens­ge­staltung. Der Beischlaf zwischen Geschwistern betrifft nicht ausschließlich diese selbst, sondern kann in die Familie und die Gesellschaft hinein wirken und außerdem Folgen für aus der Verbindung hervorgehende Kinder haben. Da das strafrechtliche Inzestverbot nur ein eng umgrenztes Verhalten zum Gegenstand hat und die Möglichkeiten intimer Kommunikation nur punktuell verkürzt, werden die Betroffenen auch nicht in eine mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbare ausweglose Lage versetzt.

2. Der Gesetzgeber verfolgt mit der angegriffenen Norm Zwecke, die verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden sind und jedenfalls in ihrer Gesamtheit die Einschränkung des Rechts auf sexuelle Selbst­be­stimmung legitimieren.

a) Als Strafgrund des § 173 StGB steht der Schutz von Ehe und Familie in den Erwägungen des Gesetzgebers an erster Stelle. Empirische Studien zeigen, dass der Gesetzgeber sich nicht außerhalb seines Einschät­zungs­spielraums bewegt, wenn er davon ausgeht, dass es bei Inzest­ver­bin­dungen zwischen Geschwistern zu gravierenden familien- und sozial­schä­di­genden Wirkungen kommen kann. Inzest­ver­bin­dungen führen zu einer Überschneidung von Verwandt­schafts­ver­hält­nissen und sozialen Rollen­ver­tei­lungen und damit zu einer Beein­träch­tigung der in einer Familie struk­tur­ge­benden Zuordnungen. Solche Rollen­über­schnei­dungen entsprechen nicht dem Bild der Familie, das Art. 6 Abs. 1 GG zu Grunde liegt. Es erscheint schlüssig und liegt nicht fern, dass Kinder aus Inzest­be­zie­hungen große Schwierigkeiten haben, ihren Platz im Familiengefüge zu finden und eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren nächsten Bezugspersonen aufzubauen. Die lebenswichtige Funktion der Familie für die menschliche Gemeinschaft, wie sie der Verfas­sungs­ga­rantie des Art. 6 Abs. 1 GG zugrunde liegt, wird entscheidend gestört, wenn das vorausgesetzte Ordnungsgefüge durch inzestuöse Beziehungen ins Wanken gerät.

b) Soweit zur Rechtfertigung der Strafnorm der Schutz der sexuellen Selbst­be­stimmung herangezogen wird, kommt diesem Normzweck auch im Verhältnis zwischen Geschwistern Relevanz zu. Der Einwand, der Schutz der sexuellen Selbst­be­stimmung sei durch §§ 174 ff. StGB (Straftaten gegen die sexuelle Selbst­be­stimmung) umfassend und ausreichend gesichert und rechtfertige § 173 Abs. 2 S. 2 StGB daher nicht, übergeht, dass § 173 StGB spezifische, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten und Schwierigkeiten der Einordnung und Abwehr von Übergriffen im Blick hat.

c) Der Gesetzgeber hat sich zusätzlich auf eugenische Gesichtspunkte gestützt und ist davon ausgegangen, dass bei Kindern, die aus einer inzestuösen Beziehung erwachsen, wegen der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr erheblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden könne. Im medizinischen und anthro­po­lo­gischen, von empirischen Studien gestützten Schrifttum wird auf die besondere Gefahr des Entstehens von Erbschäden hingewiesen.

d) Die angegriffene Strafnorm rechtfertigt sich in der Zusammenfassung nachvoll­ziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kultur­his­torisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesell­schaft­lichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen ist. Als Instrument zum Schutz der sexuellen Selbst­be­stimmung, der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere der Familie erfüllt die Strafnorm eine appellative, normsta­bi­li­sierende und damit genera­l­prä­ventive Funktion, die die Wertsetzungen des Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt.

3. Die angegriffene Norm genügt auch den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Geeignetheit, Erfor­der­lichkeit und Verhält­nis­mä­ßigkeit einer freiheits­be­schrän­kenden Regelung.

a) Der Strafbewehrung des Geschwis­te­rin­zestes kann die Eignung, den erstrebten Erfolg zu fördern, nicht abgesprochen werden. Der Einwand, die angegriffene Strafnorm verfehle aufgrund ihrer lückenhaften Ausgestaltung und wegen des Straf­aus­schlie­ßungs­grunds des § 173 Abs. 3 StGB (keine Bestrafung Minderjähriger) die ihr zugedachten Zwecke, verkennt, dass mit dem Verbot von Beischlafs­hand­lungen ein zentraler Aspekt sexueller Verbindung zwischen Geschwistern unter Strafe gestellt wird, dem für die Unvereinbarkeit des Geschwis­te­rin­zestes mit dem traditionellen Bild der Familie eine große Aussagekraft zukommt und der eine weitere sachliche Rechtfertigung in der grundsätzlichen Eignung dieser Handlung findet, über das Zeugen von Nachkommen weitere schädliche Folgen hervorzurufen. Daher stellt der Umstand, dass beischla­f­ähnliche Handlungen und sexueller Verkehr zwischen gleich­ge­schlecht­lichen Geschwistern nicht mit Strafe bedroht sind, andererseits der Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern auch in den Fällen, in denen eine Empfängnis ausgeschlossen ist, den Straftatbestand erfüllt, die grundsätzliche Erreichbarkeit der Ziele des Schutzes der sexuellen Selbst­be­stimmung und der Vorsorge vor genetisch bedingten Krankheiten nicht in Frage. Entsprechendes gilt für den Einwand, die Strafnorm erreiche wegen des Straf­aus­schlie­ßungs­grundes für Minderjährige (§ 173 Abs. 3 StGB) die Geschwister erst, wenn sie sich typischerweise aus dem Familienverband lösten, weshalb sie zum Schutz der Famili­en­struktur ungeeignet sei.

b) Die angegriffene Norm unterliegt auch im Hinblick auf ihre Erfor­der­lichkeit keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Zwar kommen in Fällen des Geschwis­te­rin­zestes vormund­schafts­ge­richtliche und jugend­wohl­fahrts­pfle­ge­rische Maßnahmen in Betracht. Diese sind gegenüber der Strafbewehrung jedoch keine milderen Mittel gleicher Wirksamkeit. Sie zielen eher auf die Verhinderung und Beseitigung von Normver­let­zungen und deren Folgen im konkreten Fall; ihnen kommt in der Regel keine genera­l­prä­ventive und normsta­bi­li­sierende Wirkung zu.

c) Die Strafdrohung ist schließlich nicht unver­hält­nismäßig. Der vorgesehene Strafrahmen erlaubt es zudem, besonderen Fallkon­stel­la­tionen, in denen die geringe Schuld der Beschuldigten eine Bestrafung als unangemessen erscheinen lässt, durch Einstellung des Verfahrens nach Oppor­tu­ni­täts­ge­sichts­punkten, Absehen von Straf oder besondere Straf­zu­mes­sungs­er­wä­gungen Rechnung zu tragen.

Dem Sondervotum des Richters Hassemer liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB steht mit dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht in Einklang.

Die Norm verfolgt schon kein Regelungsziel, das in sich wider­spruchsfrei und mit der tatbe­stand­lichen Fassung vereinbar wäre. Eine Berück­sich­tigung eugenischer Gesichtspunkte ist von vornherein kein verfas­sungs­rechtlich tragfähiger Zweck einer Strafnorm. Auch geben weder der Wortlaut der Norm noch die Geset­zes­sys­tematik Hinweise, dass der oder auch nur ein Schutzzweck der Bestimmung gerade in der Wahrung des Rechts auf sexuelle Selbst­be­stimmung liegen könnte. Schließlich findet das Verbot des Geschwis­te­rin­zestes seine verfas­sungs­rechtliche Rechtfertigung auch nicht im Schutz von Ehe und Familie. Unter Strafe gestellt ist lediglich der Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern. Ausgenommen sind alle anderen sexuellen Handlungen zwischen Bruder und Schwester. Nicht erfasst sind auch sexuelle Beziehungen zwischen gleich­ge­schlecht­lichen sowie zwischen nicht leiblichen Geschwistern. Wäre die Strafvorschrift wirklich auf den Schutz der Familie vor sexuellen Handlungen angelegt, so würde sie sich auf diese famili­en­stö­renden Handlungen erstrecken. Es spricht viel dafür, dass die Vorschrift in der bestehenden Fassung lediglich Moral­vor­stel­lungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge hat. Der Aufbau oder der Erhalt eines gesell­schaft­lichen Konsenses über Wertsetzungen aber kann nicht unmittelbares Ziel einer Strafnorm sein.

Für die mit § 173 Abs. 2 S. 2 StGB verfolgten Ziele bietet die Norm zudem keinen geeigneten Weg. Der Straftatbestand ist mit seiner Beschränkung der Strafbarkeit auf Beischlafs­hand­lungen zwischen Geschwistern verschiedenen Geschlechts nicht in der Lage, den Schutz einer Familie vor schädlichen Einwirkungen durch sexuelle Handlungen zu gewährleisten. Er greift zu kurz, weil er gleich schädliche Verhal­tens­weisen nicht erfasst und zudem nichtleibliche Geschwister als mögliche Täter nicht einbezieht. Er geht zu weit, weil er Verhal­tens­weisen erfasst, die sich - aufgrund der Volljährigkeit der Kinder und des damit einhergehenden Ablösungs­pro­zesses von der Familie - auf die Famili­en­ge­mein­schaft nicht (mehr) schädlich auswirken können.

Die Strafbarkeit des Geschwis­te­rin­zestes begegnet darüber hinaus verfas­sungs­recht­lichen Bedenken aus dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit im Hinblick auf die Verfügbarkeit anderer hoheitlicher Maßnahmen, die den Schutz der Familie in gleicher Weise oder sogar besser gewährleisten können, wie etwa jugend­wohl­fahrt­pfle­ge­rische sowie familien- und vormund­schafts­ge­richtliche Maßnahmen.

Schließlich kollidiert die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB mit dem verfas­sungs­recht­lichen Übermaßverbot. Es fehlt der Norm an gesetzlichen Beschränkungen der Strafbarkeit für ein Verhalten, das keinem der möglichen Schutzzwecke gefährlich werden kann.

Nachtrag vom 27.11.2008

Der Anwalt des Beschwer­de­führers hat mitgeteilt, dass er einen Verstoß gegen Artikel 8 der europäischen Konvention für Menschenrechte sieht und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde eingelegt hat. Die Beschwerde greife auch die Argumentation des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts als inakzeptabel an.

Quelle: ra-online, BVerfG (pm)

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