23.11.2024
23.11.2024  
Sie sehen vier Hände, die ineinander greifen.
ergänzende Informationen

Sozialgericht Konstanz Urteil28.01.2016

Opferent­schä­digung: Zeugung eines Kindes durch Gewalttat in Inzest-Beziehung muss glaubhaft gemacht werden könnenAnerkennung einer Gewalttat im Sinne des Opfer­entschädigungs­gesetzes

Das Sozialgericht Konstanz hat entschieden, dass die Zeugung in einer inzestuösen Beziehung nur dann als Gewalttat im Sinne des Opfer­entschädigungs­gesetzes anerkannt werden kann, wenn die Gewalttat zumindest glaubhaft gemacht worden ist.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der 15 Jahre alte Kläger aus dem Bodenseekreis ist das Kind einer inzestuösen Beziehung zwischen seiner Mutter und deren Vater, seinem Großvater. Er begehrte die Feststellung des zuständigen Landkreises, seine Zeugung sei Folge einer Gewalttat im Sinne des Opferent­schä­di­gungs­ge­setzes (OEG). Der Antrag des Klägers wurde von der zuständigen Behörde des Landkreises abgelehnt. Auch das hiergegen gerichtete Klageverfahren blieb vor dem Sozialgericht Konstanz erfolglos.

Für Anspruch auf Opferent­schä­digung muss Zeugung Folge einer Gewalttat gewesen sein

Das Opferent­schä­di­gungs­gesetz sieht Entschä­di­gungs­ansprüche für Opfer von Straftaten vor. Auch ein aus einer Inzestbeziehung geschädigt geborenes Kind kann wegen dieser Tat Anspruch auf Versorgung nach dem Opferent­schä­di­gungs­gesetz haben. Das ist in der Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts seit längerem geklärt (Urteil vom 16.4.2002 - B 9 VG 1/01 R). Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Zeugung Folge einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG war. Darunter versteht man einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen eine andere Person. Dieser muss zumindest glaubhaft gemacht werden.

Famili­en­ver­hältnisse im zugrunde liegenden Verfahren waren von Gewalt und massiven Drohungen gegen Leib und Leben geprägt

Im konkreten Fall wurde die Mutter des Klägers erstmals im Alter von neun Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht. Der Vater zeugte über die Jahre hinweg sechs Kinder mit ihr. Die Famili­en­ver­hältnisse waren von Gewalt und massiven Drohungen gegen Leib und Leben geprägt. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass der Vater zwei weitere seiner Töchter missbrauchte oder dies zumindest versuchte sowie seine Enkelkinder bedrohte und misshandelte. Beim Kläger selbst wurde gutachtlich eine subkategoriale posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung in Form von erhöhter Ängstlichkeit, Dunkelangst und Trennungs­angst­stö­rungen, eine Intel­li­genz­min­derung mit Verhal­tens­auf­fäl­lig­keiten und zusätzlichen Entwick­lungs­stö­rungen sowie eine Hörschädigung festgestellt.

Zeugung durch Gewalttat nicht sicher feststellbar

Das Gericht konnte nicht sicher feststellen, dass auch der Geschlechtsakt, in dem der Kläger gezeugt worden ist, durch eine Gewalttat im Sinne des § 1 OEG erfolgte. Es ist vielmehr nicht auszuschließen, dass die Mutter den Geschlechtsakt duldete, jedenfalls ihr Vater hiervon ausging, also nicht vorsätzlich handelte. Aus diesem Grund war er auch im vorangegangenen Strafverfahren im Jahr 2006 vom Landgericht Rottweil vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen worden. Zu einer Revisi­ons­ver­handlung kam es nicht mehr, da der Angeklagte in der Unter­su­chungshaft verstarb.

Zeugenaussage der Schwester lässt auf "eheähnliches Zusammenleben" schließen

Für den Zeitpunkt der Zeugung des Klägers, die Empfängniszeit, kommt rechtlich ein Zeitraum von vier Monaten in Frage. Dass der Vater nicht jedes Mal massive tätliche Gewalt einsetzen musste, um den Geschlechts­verkehr zu erzwingen, hat auch der Prozess­ver­treter des Klägers eingeräumt. Nach den Zeugenaussagen der Schwestern vor dem Strafgericht gibt es Hinweise darauf, dass sich die Mutter des Klägers letztlich in ihre Rolle fügte und es über die Jahre hinweg zu einem "eheähnlichen Zusammenleben" gekommen ist. Schon das Strafgericht war zu der Einschätzung gelangt, dass nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden könne, dass die einmal angewandte Gewalt automatisch bei allen späteren sexuellen Missbräuchen und so auch bei dem konkreten Geschlechtsakt, bei dem der Kläger gezeugt worden ist, fortwirkte. Das Sozialgericht kam zu keiner anderen Würdigung. Auf diesen konkreten Geschlechtsakt kommt es aber bei der Frage seiner Anerkennung als Gewalttat im Sinne des Opferent­schä­di­gungs­ge­setzes entscheidend an.

Psychoreaktive Störungen des Klägers als Folge von Misshandlungen anerkannt

Von dem beklagten Landkreis anerkannt worden waren hingegen psychoreaktive Störungen des Klägers als Folge von Misshandlungen durch seinen Großvater. Anerkannt worden waren auch Folgen der Misshandlungen, die die Mutter des Klägers und welche die Geschwister des Klägers durch den Vater erlitten hatten. Hierzu hatten sich die jeweiligen Beteiligten in mehreren Verfahren vor dem Sozialgericht vergleichsweise geeinigt. Dies alles war aber nicht Gegenstand dieses Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Konstanz.

Hintergrundinformation

Das Opferent­schä­di­gungs­gesetz ist 1976 in Kraft getreten. Danach sollen Opfer von Gewalttaten unabhängig von den anderen Sozialsystemen eine Entschädigung erhalten. Verbre­chen­sopfer erleiden häufig nicht nur eine körperliche Beein­träch­tigung. Sie müssen darüber hinaus oft auch wirtschaftliche Einbußen in ganz erheblichem Umfang hinnehmen. Diese werden durch Renten aus der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung, durch Leistungen aus privaten Versicherungen oder durch die Sozialhilfe nicht immer voll ausgeglichen. Gleichzeitig führen die Schaden­s­er­satz­ansprüche gegen den Täter in den seltensten Fällen zu einem tatsächlichen Ausgleich des Schadens. In diesen Fällen soll das OEG eine angemessene wirtschaftliche Versorgung für Menschen sicherstellen, die durch eine Gewalttat einen Gesund­heits­schaden erlitten haben.

Dahinter steht der Grundgedanke des Sozialen Entschä­di­gungs­rechts, für diejenige Person eine angemessene wirtschaftliche Versorgung zu gewährleisten, die einen Gesund­heits­schaden erlitten hat, für dessen Folgen zunächst der Staat einsteht.

Eine Entschädigung wird nicht nur für alle Gesund­heits­schäden geleistet, die sich aus einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff (z. B. Totschlag, Körper­ver­letzung, sexuelle Nötigung) ergeben, sondern auch für die wirtschaft­lichen Folgen der Gesund­heits­schä­digung. Ebenfalls sind psychische Beein­träch­ti­gungen als Gesund­heits­schäden anerkannt. Eine Erstattung von Eigentums- und Vermö­gens­schäden findet dagegen nicht statt.

Umfang und Höhe der Leistungen, auf die Opfer von Gewalttaten Anspruch haben, richten sich grundsätzlich nach den auch für die Versorgung der Kriegs­be­schä­digten und Kriegs­hin­ter­bliebenen geltenden Regelungen des Sozialen Entschä­di­gungs­rechts. Unter­schiedliche Einzel­leis­tungen sind möglich:

- Heil- und Kranken­be­handlung, die bei fortbestehenden gesund­heit­lichen Folgen der Tat unbegrenzt weiter geleistet wird

- Heil- und Hilfsmittel (Medikamente, Prothesen, Zahnersatz, Brillen usw.)

- Rehabi­li­ta­ti­o­ns­maß­nahmen (z. B. Kuraufenthalte)

- einkom­men­s­u­n­ab­hängige und einkom­men­s­ab­hängige monatliche Renten­leis­tungen

- Zusätzliche Leistungen (z.B. Hilfen zur Weiterführung des Haushalts, Hilfe zur Pflege bei wirtschaft­licher Bedürftigkeit).

Quelle: Sozialgericht Konstanz/ra-online

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil22414

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI