21.11.2024
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Dokument-Nr. 12009

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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil21.07.2011

Fristlose Kündigung einer Arbeitnehmerin wegen der Veröf­fent­lichung von Missständen bei ihrem Arbeitgeber verstößt gegen die Menschen­rechts­kon­ventionEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte sieht in Kündigung wegen "whistleblowing" Verletzung des Rechts auf freie Meinung­s­äu­ßerung

Die fristlose Kündigung einer Altenpflegerin, die Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber erstattet hatte, weil ihrer Ansicht nach Pflege­be­dürftige und ihre Angehörigen wegen Personalmangels keine angemessene Gegenleistung für die von ihnen getragenen Kosten erhielten, ist ungerecht­fertigt. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und sah in der Kündigung eine Verletzung von Artikel 10 (Freiheit der Meinung­s­äu­ßerung) der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK).

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Streitfalls, Brigitte Heinisch, ist deutsche Staats­an­ge­hörige, 1961 geboren, und lebt in Berlin. Sie war als Altenpflegerin bei der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH beschäftigt, die auf Gesundheits- und Altenpflege spezialisiert und deren Mehrheitseigner das Land Berlin ist. Ab Januar 2002 arbeitete Brigitte Heinisch in einem Altenpflegeheim, in dem viele der Patienten auf spezielle Hilfe angewiesen waren.

Medizinische Dienst der Krankenkassen stellt wesentliche Mängel bei geleisteter Pflege fest

Brigitte Heinisch und ihre Kollegen wiesen die Geschäfts­leitung der GmbH im Zeitraum zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 mehrfach darauf hin, dass das Personal überlastet sei und seinen Pflichten nicht nachkommen könne; darüber hinaus würden Pflege­leis­tungen nicht korrekt dokumentiert. Von Mai 2003 an erkrankte Brigitte Heinisch mehrfach und war teilweise arbeitsunfähig; laut einer ärztlichen Bescheinigung war dies die Folge von Arbeits­über­lastung. Nach einem Kontrollbesuch in dem Altenpflegeheim stellte der Medizinische Dienst der Krankenkassen im November 2003 wesentliche Mängel bei der geleisteten Pflege fest, unter anderem unzureichende Perso­nal­ausstattung sowie unzureichende Pflegestandards und mangelhafte Gestaltung der Dokumentation. Brigitte Heinischs Rechtsanwalt wies in einem Brief an die Geschäfts­leitung der GmbH im November 2004 darauf hin, dass wegen Personalmangels die hygienische Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet werden könne, und verlangte von der Geschäfts­leitung, schriftlich zu erklären, wie sie die ausreichende Versorgung der Patienten sicherzustellen beabsichtigte.

Brigitte Heinisch erstattet Strafanzeige gegen Arbeitgeber wegen besonders schweren Betruges

Nachdem die Geschäfts­leitung diese Vorwürfe zurückgewiesen hatte, erstattete Brigitte Heinisch im Dezember 2004 durch ihren Anwalt Strafanzeige wegen besonders schweren Betruges gegen die GmbH, mit der Begründung, sie leiste wissentlich nicht die in ihrer Werbung versprochene hochwertige Pflege, erbringe also nicht die bezahlten Dienst­leis­tungen und gefährde die Patienten. Brigitte Heinisch machte außerdem geltend, die GmbH habe systematisch versucht, diese Probleme zu verschleiern, indem Pflegekräfte angehalten worden seien, Leistungen zu dokumentieren, die so nicht erbracht worden seien. Im Januar 2005 stellte die Staats­an­walt­schaft Berlin die Ermittlungen gegen die GmbH ein.

Brigitte Heinisch weist mit Unterstützung von ver.di und mittels Flugblättern auf Kündigung als "politische Disziplinierung" hin

Brigitte Heinisch wurde im Januar 2005 aufgrund ihrer wiederholten Erkrankungen mit Wirkung zum 31. März gekündigt. Gemeinsam mit Freunden und mit der Unterstützung der Dienst­leis­tungs­ge­werk­schaft ver.di verteilte sie ein Flugblatt, das die Kündigung als „politische Disziplinierung, um den berechtigten Widerstand vieler Beschäftigter im Gesund­heitswesen für eine menschenwürdige Gesund­heits­ver­sorgung mundtot zu machen“ verurteilte und auch die von ihr erstattete Strafanzeige gegen den Arbeitgeber erwähnte. Die GmbH erfuhr erst auf diesem Weg von der Strafanzeige und kündigte Brigitte Heinisch daraufhin fristlos, weil sie verdächtigt wurde, die Herstellung und Verteilung des Flugblatts initiiert zu haben. Die Ermittlungen gegen die GmbH wurden auf Brigitte Heinischs Ersuchen im Februar 2005 wieder aufgenommen, im Mai aber wieder eingestellt.

Arbeitsgericht hält Kündigung für unrechtmäßig. Landes- und Bundes­a­r­beits­gericht erklären Kündigung für zulässig

Brigitte Heinisch klagte vor dem Arbeitsgericht Berlin gegen ihre fristlose Kündigung. In einem Urteil vom August 2005 erklärte das Gericht die Kündigung für unrechtmäßig. Es befand, das Flugblatt sei durch ihr Recht auf Meinungs­freiheit geschützt und kein pflichtwidriges Verhalten im Sinne ihres Arbeitsvertrags gewesen. Das Landes­a­r­beits­gericht hob das Urteil jedoch im März 2006 auf. Es befand, die Kündigung sei rechtmäßig gewesen, da die von Brigitte Heinisch erstattete Strafanzeige einen „wichtigen Grund“ für die fristlose Beendigung des Arbeits­ver­hält­nisses im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dargestellt habe. Das Bundes­a­r­beits­gericht bestätigte die Entscheidung und am 6. Dezember 2007 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, die Verfas­sungs­be­schwerde dagegen zur Entscheidung anzunehmen.

Erstattete Strafanzeige als so genanntes whistleblowing zu bewerten

Es bestand zwischen den Parteien Einigkeit darüber, dass die von Brigitte Heinisch erstattete Strafanzeige als so genanntes whistleblowing zu bewerten ist – also die Offenlegung von Missständen in Unternehmen oder Institutionen durch einen Arbeitnehmer – das in den Geltungsbereich von Artikel 10 fällt. Es war weiterhin unbestritten, dass ihre Kündigung und die Entscheidungen der deutschen Gerichte einen Eingriff in ihr Recht gemäß Artikel 10 (Freiheit der Meinung­s­äu­ßerung) darstellten.

Kündigung „aus wichtigem Grund“ bei unzumutbarer Fortsetzung des Dienst­ver­hält­nisses generell zulässig

Der Gerichtshof teilte die in ihrer Stellungnahme zu der Beschwerde dargelegte Auffassung der deutschen Bundesregierung, dass dieser Eingriff im Sinne von Artikel 10 „gesetzlich vorgesehen“ war, da das deutsche BGB die mögliche Kündigung eines Dienst­ver­hält­nisses ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist von jedem Vertragsteil vorsieht, wenn „aus wichtigem Grund“ die Fortsetzung des Dienst­ver­hält­nisses dem Kündigenden nicht zugemutet werden kann.

Erhebliche Verletzung der Loyali­täts­pflicht kann Kündigung rechtfertigen

Nach der einschlägigen Rechtsprechung der deutschen Gerichte kann eine Strafanzeige gegen einen Arbeitgeber eine Kündigung rechtfertigen, wenn sie eine erhebliche Verletzung der Loyali­täts­pflicht darstellt. Auch bestand zwischen den Parteien Einigkeit darüber, dass die Kündigung den legitimen Zweck verfolgt hatte, den Ruf und die Interessen von Brigitte Heinischs Arbeitgeber zu schützen. Der Gerichtshof hatte folglich darüber zu befinden, ob ein angemessener Ausgleich zwischen diesen Interessen und Brigitte Heinischs Recht gemäß Artikel 10 herbeigeführt worden war.

Hinweise auf Mängel wurden bereits vor Stellung der Strafanzeige gegenüber Arbeitgeber offengelegt

Die von Brigitte Heinisch offengelegten Informationen über die mutmaßlichen Mängel in der Pflege waren zweifellos von öffentlichem Interesse, insbesondere im Anbetracht der Tatsache, dass die betroffenen Patienten möglicherweise nicht selbst in der Lage waren, auf die Missstände aufmerksam zu machen. Zwar wurde die rechtliche Bewertung als besonders schwerer Betrug zum ersten Mal in der Strafanzeige erwähnt. Brigitte Heinisch hatte den zugrun­de­lie­genden Sachverhalt, einschließlich der Tatsache, dass Leistungen nicht korrekt dokumentiert worden seien, aber bereits zuvor in Hinweisen an ihren Arbeitgeber offengelegt. Es lagen keine Anhaltspunkte vor die ihre Angaben widerlegt hätten, wonach weitere inner­be­triebliche Beschwerden wirkungslos gewesen wären.

Beanstandete Mängel der Arbeitgeberin wurden durch Kritik des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen bestätigt

Weiter lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Brigitte Heinisch wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hätte. Die von ihr geäußerten Bedenken waren nicht nur Gegenstand früherer Hinweise an ihren Arbeitgeber, sondern sie wurden auch durch die Kritik des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen bestätigt. Zwar wurden die straf­recht­lichen Ermittlungen gegen ihren Arbeitgeber eingestellt; allerdings kann von einer Person, die Strafanzeige erstattet, nicht verlangt werden, vorauszusehen, ob die Ermittlungen zu einer Anklage führen oder eingestellt werden.

Strafanzeige dank Kontrollen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen unnötig

Der Gerichtshof zweifelte nicht daran, dass Brigitte Heinisch in gutem Glauben gehandelt hatte. Er war nicht vom Argument der Bundesregierung überzeugt, ihr hätte angesichts der regelmäßigen Kontrollen, insbesondere durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, bewusst sein müssen, dass eine Strafanzeige unnötig sei. So hatte ihre Erfahrung gezeigt, dass frühere Beschwerden des Medizinischen Dienstes über die Bedingungen in dem Altenpflegeheim nicht zu Verbesserungen geführt hatten.

Öffentliches Interesse an Informationen über Mängel in Altenpflege überwiegt Interesse des Unternehmens am Schutz seines Rufes

Die von Brigitte Heinisch geäußerten Vorwürfe hatten zweifellos eine schädigende Wirkung auf den Ruf und die Geschäfts­in­teressen der GmbH. Der Gerichtshof kam aber zu der Auffassung, dass in einer demokratischen Gesellschaft das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der insti­tu­ti­o­nellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen so wichtig ist, dass es gegenüber dem Interesse dieses Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäfts­in­teressen überwiegt.

Härteste arbeits­rechtliche Sanktion kann abschreckende Wirkung auf andere Arbeitnehmer haben und zu gesamt­ge­sell­schaft­lichem negativen Effekt führen

Schließlich war gegen Brigitte Heinisch die härteste arbeits­rechtliche Sanktion verhängt worden. Ihre Kündigung hatte nicht nur negative Folgen für ihre berufliche Laufbahn, sondern könnte auch eine abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeiter des Unternehmens gehabt und sie davon abgehalten haben, auf Mängel in der insti­tu­ti­o­nellen Pflege hinzuweisen. Angesichts der Medien­be­rich­t­er­stattung über den Fall könnte die Sanktion selbst auf andere Arbeitnehmer in der Pflegebranche eine abschreckende Wirkung und somit gesamt­ge­sell­schaftlich einen negativen Effekt gehabt haben. Die deutschen Gerichte hatten also keinen angemessenen Ausgleich herbeigeführt zwischen der Notwendigkeit, den Ruf des Arbeitgebers zu schützen einerseits, und derjenigen, Brigitte Heinischs Recht auf Freiheit der Meinung­s­äu­ßerung zu schützen andererseits. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 10 vor.

Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Frau Heinisch 10.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 5.000 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht/ra-online

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