21.11.2024
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Dokument-Nr. 14340

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Urteil23.09.2010Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte1620/03
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • AuR 2011, 307Zeitschrift: Arbeit und Recht (AuR), Jahrgang: 2011, Seite: 307
  • EuGRZ 2010, 560Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ), Jahrgang: 2010, Seite: 560
  • NZA 2011, 279Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA), Jahrgang: 2011, Seite: 279
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Vorinstanzen:
  • Arbeitsgericht Essen, Urteil09.12.1997, 6 Ca 2708/97
  • Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil13.08.1998, 7 Sa 425/98
  • Bundesarbeitsgericht, Urteil16.09.1999, 2 AZR 712/98
  • Bundesverfassungsgericht, Urteil08.07.2002, 2 BvR 1160/00
ergänzende Informationen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil23.09.2010

EGMR: Kündigung von Kirchen­an­ge­stellten wegen EhebruchsGerichte müssen genau zwischen Rechten beider Parteien abwägen und Art der Tätigkeit berücksichtigen

Die Katholische Kirche darf einen von seiner Frau getrennt und mit einer neuen Partnerin zusammen lebenden Angestellten nicht ohne weiteres wegen des Vorwurfs des Ehebruchs und der Bigamie kündigen. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Bei Kündigungen von Kirchen­an­ge­stellten wegen Ehebruchs müssen Gerichte zwischen Rechten beider Parteien genau abwägen und die Art der Tätigkeit berücksichtigen, da ansonsten ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Schutz des Privatlebens vorliegt.

Im zugrunde liegenden Streitfall ging es um die Kündigung eines Arbeits­ver­hält­nisses durch einen kirchlichen Arbeitgeber wegen eines außerehelichen Verhältnisses des Arbeitnehmers.

Kündigung wegen Ehebruchs und Bigamie

Bernhard Schüth ist deutscher Staatsbürger, 1957 geboren, und lebt in Essen. Er war seit Mitte der 1980er Jahre bei der katholischen Pfarrgemeinde St. Lambertus in Essen als Organist und Chorleiter angestellt, als er sich 1994 von seiner Frau trennte. Von 1995 an lebte er mit seiner neuen Partnerin zusammen. Nachdem seine Kinder im Kindergarten davon gesprochen hatten, dass Bernhard Schüth wieder Vater werden würde, führte der Dekan der Gemeinde im Juli 1997 zunächst ein Gespräch mit ihm. Wenige Tage später sprach die Gemeinde seine Kündigung mit Wirkung ab April 1998 aus, da er gegen die Grundordnung der Katholischen Kirche für den kirchlichen Dienst im Rahmen kirchlicher Arbeits­ver­hältnisse verstoßen habe. Indem er außerhalb der von ihm geschlossenen Ehe mit einer anderen Frau zusammenlebte, die von ihm ein Kind erwartete, habe er nicht nur Ehebruch begangen, sondern sich auch der Bigamie schuldig gemacht.

Von Katholischer Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue widerspricht nicht Rechtsordnung

Bernhard Schüth klagte vor dem Arbeitsgericht Essen gegen seine Kündigung, die das Gericht mit Urteil vom Dezember 1997 für ungültig erklärte. Das Landes­a­r­beits­gericht Düsseldorf bestätigte das Urteil zunächst, aber das Bundes­a­r­beits­gericht hob das Urteil auf und verwies den Fall zurück. Nach Auffassung des Bundes­a­r­beits­ge­richts hätte das Landes­a­r­beits­gericht den Dekan der Gemeinde anhören müssen, um festzustellen, ob dieser in einem persönlichen Gespräch versucht hatte, Bernhard Schüth zur Beendigung seines außerehelichen Verhältnisses zu bewegen. Wie im Fall Obst bezog sich das Gericht auf das Grundsatzurteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts und unterstrich, dass die von der Katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue der Rechtsordnung nicht widerspreche.

LAG: Weiter­be­schäf­tigung ohne Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit nicht möglich

Nach der Zurück­ver­weisung wies das Landes­a­r­beits­gericht die Klage Bernhard Schüths im Februar 2000 ab. Es befand, dass der Dekan angesichts der Entschlos­senheit Bernhard Schüths, seine neue Beziehung aufrecht­zu­er­halten, berech­tig­terweise habe annehmen können, dass eine Abmahnung überflüssig sei. Nach Auffassung des Gerichts habe die Gemeinde Bernhard Schüth nicht ohne den Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit weiter beschäftigen können, da seine Tätigkeit in enger Verbindung mit der kirchlichen Mission gestanden habe.

Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung angenommen

Die Revision zum Bundes­a­r­beits­gericht blieb erfolglos. Im Juli 2002 entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht unter Berufung auf sein Grundsatzurteil vom 4. Juni 1985, die Verfas­sungs­be­schwerde Bernhard Schüths nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Unter Berufung auf Artikel 8 beklagte sich der Beschwer­de­führer über die Weigerung der deutschen Arbeitsgerichte, ihre Kündigung aufzuheben.

Die Beschwerde wurde am 11.Januar 2003 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Die Katholische Kirche Diözese Essen als Drittpartei gab eine schriftliche Stellungnahme ab.

Eigen­stän­digkeit von Religi­o­ns­ge­mein­schaften gegen unzulässige staatliche Einmischung rechtlich geschützt

Der Gerichtshof hatte darüber zu befinden, ob die von den deutschen Arbeits­ge­richten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht des Beschwer­de­führers auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 einerseits und den Konven­ti­o­ns­rechten der Katholischen Kirche andererseits dem Beschwer­de­führer einen ausreichenden Kündi­gungs­schutz gewährt hatte. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Eigen­stän­digkeit von Religi­o­ns­ge­mein­schaften gegen unzulässige staatliche Einmischung nach Artikel 9 (Religi­o­ns­freiheit) in Verbindung mit Artikel 11 (Verei­ni­gungs­freiheit) geschützt war.

Mit seinen Arbeits­ge­richten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfas­sungs­gericht erfüllte Deutschland im Grundsatz die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeits­recht­lichen Streitfällen. Im vorliegenden Fall hatte der Beschwer­de­führer vor einem Arbeitsgericht geklagt, das dazu befugt war, über die Wirksamkeit seiner Kündigung nach staatlichem Arbeitsrecht unter Berück­sich­tigung des kirchlichen Arbeitsrechtes zu entscheiden. Das Bundes­a­r­beits­gericht ist zu der Auffassung gelangt, dass die von der Katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue der Rechtsordnung nicht widerspreche.

EGMR: Interessen des kirchlichen Arbeitgebers wurden durch LAG nicht gegen Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens abgewogen

Der Gerichtshof merkte an, dass sich das Landes­a­r­beits­gericht darauf beschränkt hatte festzustellen, dass er als Organist und Chorleiter zwar nicht in die Gruppe derjenigen Mitarbeiter fiel, deren Kündigung im Falle schweren Fehlverhaltens zwangsläufig war, etwa derjenigen in seelsor­ge­rischen und klerikalen Berufen sowie in leitenden Positionen, aber dass seine Tätigkeit dennoch so eng mit der Mission der Katholischen Kirche verbunden war, dass sie ihn nicht weiter beschäftigen konnte, ohne jegliche Glaubwürdigkeit zu verlieren. Das Landes­a­r­beits­gericht hatte dieses Argument nicht weiter ausgeführt, sondern schien lediglich die Meinung des kirchlichen Arbeitgebers in dieser Frage wiedergegeben zu haben. Zudem hatten die Arbeitsgerichte das de facto-Familienleben Bernhard Schüths oder dessen Schutz nicht einmal erwähnt. Die Interessen des kirchlichen Arbeitgebers waren folglich nicht gegen Bernhard Schüths Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens abgewogen worden, sondern lediglich gegen sein Interesse, seinen Arbeitsplatz zu behalten. Eine gründlichere Prüfung wäre bei der Abwägung der konkurrierenden Rechte und Interessen angemessen gewesen.

Vertrags­un­ter­zeichnung konnte nicht als Versprechen hinsichtlich der Enthaltsamkeit bei einer Trennung vom Ehepartner gewertet werden

Zwar erkannte der Gerichtshof an, dass Bernhard Schüth, indem er seinen Arbeitsvertrag unterzeichnet hatte, gegenüber der Katholischen Kirche eine Loyali­täts­ver­pflichtung eingegangen war, die sein Recht auf Achtung des Privatlebens in gewissem Maße einschränkte. Seine Unterzeichnung des Vertrages konnte aber nicht als eindeutiges Versprechen verstanden werden, im Fall einer Trennung oder Scheidung ein enthaltsames Leben zu führen. Die deutschen Arbeitsgerichte hatten kaum berücksichtigt, dass es keine Medien­be­rich­t­er­stattung über seinen Fall gegeben hatte und dass er, nach 14 Jahren im Dienst der Gemeinde, die Position der Katholischen Kirche offenbar nicht angefochten hatte.

Begrenzte Möglichkeiten zur Neube­schäf­tigung bei Kündigung durch kirchlichen Arbeitgeber von besonderer Bedeutung

Die Tatsache, dass ein von einem kirchlichen Arbeitgeber gekündigter Mitarbeiter nur begrenzte Möglichkeiten hatte, eine neue Stelle zu finden, war nach Auffassung des Gerichtshofs von besonderer Bedeutung. Dies galt besonders, wenn der gekündigte Arbeitnehmer eine spezifische Qualifikation hatte, die es ihm schwierig oder gar unmöglich machte, eine neue Arbeit außerhalb der Kirche zu finden, wie im Fall von Bernhard Schüth, der nunmehr einer Teilzeit­be­schäf­tigung in einer evangelischen Gemeinde nachging. In diesem Zusammenhang merkte der Gerichtshof an, dass die Vorschriften der Evangelischen Kirche für die Beschäftigung von Nicht­mit­gliedern der Kirche vorsahen, dass diese nur in Ausnahmefällen und nur im Rahmen einer Zusatz­be­schäf­tigung angestellt werden konnten.

Abwägungen wurden nicht in Übereinstimmung mit der Konvention vorgenommen

Der Gerichtshof befand, dass die Abwägung der deutschen Arbeitsgerichte zwischen den Rechten Bernhard Schüths und denen des kirchlichen Arbeitgebers nicht in Übereinstimmung mit der Konvention vorgenommen worden war.

Der Gerichtshof zu dem Schluss, im Fall Schüth eine Verletzung von Artikel 8 vorlag.

Der Gerichtshof befand, dass die Frage der Anwendung von Artikel 41 (gerechte Entschädigung) im Fall Schüth noch nicht reif für eine Entscheidung war und zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werden würde. Die Parteien haben Gelegenheit, binnen drei Monaten nach Verkündung des Urteils zu einer diesbezüglichen Einigung zu gelangen.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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