21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil03.02.2011

EGMR: Kündigung einer bei der evangelischen Kirche angestellten Kindergärtnerin wegen Mitgliedschaft in anderer Religi­o­ns­ge­mein­schaft gerechtfertigtKeine Verletzung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit durch fristlose Kündigung

Die fristlose Kündigung einer bei der evangelischen Kirche angestellten Kindergärtnerin wegen einer Mitgliedschaft in einer anderen Religi­o­ns­ge­mein­schaft ist gerechtfertigt. Eine Verletzung des Artikels 9 der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention, der das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit umfasst, liegt nicht vor, da die Kündigung eine notwendige Maßnahme darstellt, um die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Falls, Astrid Siebenhaar, ist deutsche Staats­an­ge­hörige, 1964 geboren, und lebt in Keltern. Sie ist Katholikin und arbeitete von Mai 1997 an zunächst als Erzieherin in einer Kindertagesstätte einer evangelischen Gemeinde und später in der Leitung des Kindergartens einer weiteren evangelischen Gemeinde in Pforzheim. Ihr Arbeitsvertrag sah vor, dass auf das Arbeits­ver­hältnis die Arbeits­rechts­re­ge­lungen für Mitarbeiter der evangelischen Landeskirche anwendbar seien. Diese enthalten unter anderem eine Bestimmung, die den Mitarbeiter zu Loyalität gegenüber der evangelischen Kirche verpflichtet und eine Mitgliedschaft oder Mitarbeit in Organisationen untersagt, deren Grundauffassung oder Tätigkeit im Widerspruch zum Auftrag der Kirche stehen.

Kirche spricht fristlose Kündigung wegen Mitgliedschaft bei einer anderen Religi­o­ns­ge­mein­schaft aus

Die Kirche wurde im Dezember 1998 anonym über die Mitgliedschaft Astrid Siebenhaars in einer anderen Religionsgemeinschaft, der „Universalen Kirche / Bruderschaft der Menschheit“, und über die Tatsache informiert, dass sie für diese Gemeinschaft Einfüh­rungskurse in deren Lehre anbot. Nachdem Astrid Siebenhaar zunächst zu der Angelegenheit befragt worden war, informierte die Kirche sie mit Zustimmung der Mitar­bei­ter­ver­tretung über ihre fristlose Kündigung mit Wirkung zum 1. Januar 1999.

Arbeitsgericht Pforzheim: Aus Arbeitsvertrag resultierende Loyali­täts­pflicht gegenüber der evangelischen Kirche verletzt

Das Arbeitsgericht Pforzheim wies die Beschwerde Astrid Siebenhaars gegen ihre Kündigung im Februar 1999 zurück, da sie die aus ihrem Arbeitsvertrag resultierende Loyali­täts­pflicht gegenüber der evangelischen Kirche verletzt habe. Nach Auffassung des Gerichts habe dieser Verstoß einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB dargestellt.

BAG: Glaubwürdigkeit der Kirche durch Tätigkeit der Beschwer­de­führerin in Frage gestellt

Das Landes­a­r­beits­gericht Baden-Württemberg gab der Beschwerde Astrid Siebenhaars teilweise statt, indem es befand, dass der Verstoß gegen ihre Loyali­täts­pflicht keine fristlose Kündigung gerechtfertigt habe. Das Bundes­a­r­beits­gericht hob das Urteil auf und wies die Beschwerde zurück. Es verwies dabei insbesondere auf die Tatsache, dass Astrid Siebenhaar nicht nur Einfüh­rungskurse in die Lehre der „Universalen Kirche“ angeboten habe, sondern auch als Kontaktperson auf Anmel­de­for­mularen für „Grundkurse für höheres geistiges Lernen“ angegeben sei. Die evangelische Kirche habe daher berech­tig­terweise davon ausgehen können, dass diese Aktivitäten die Arbeit Astrid Siebenhaars im Kindergarten beeinträchtigen und die Glaubwürdigkeit der Kirche in Frage stellen würden. Zudem müsse die relativ kurze Betrie­bs­zu­ge­hö­rigkeit Astrid Siebenhaars berücksichtigt werden. Am 7. März 2002 nahm das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Verfas­sungs­be­schwerde Frau Siebenhaars nicht zur Entscheidung an.

Gerichte berufen sich hinsichtlich der Verletzung von Loyali­täts­pflichten auf Grundsatzurteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

Die Arbeitsgerichte beriefen sich auf ein Grundsatzurteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 4. Juni 1985 (2 BvR 1703/83, 1718/83 und 856/84) zur Wirksamkeit von Kündigungen kirchlicher Mitarbeiter wegen der Verletzung von Loyali­täts­pflichten. Kirchliche Arbeitgeber hätten demnach das Recht, Arbeits­ver­hältnisse eigenständig zu regeln, Arbeitsgerichte seien allerdings an die religiösen und moralischen Maßstäbe der Kirchen nur insoweit gebunden, als diese nicht mit den Grundsätzen der Rechtsordnung in Konflikt stünde.

Beschwer­de­ein­reichung wegen Verletzung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit

Astrid Siebenhaar beklagte sich über ihre fristlose Kündigung und berief sich bei ihrer Beschwerde am 29. April 2002 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte insbesondere auf Artikel 9 der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention, der besagt das jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat.

Gerichtshof muss Entscheidung über Gewährung ausreichenden Kündi­gungs­schutzes treffen

Der Gerichtshof hatte darüber zu befinden, ob die von den deutschen Arbeits­ge­richten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht Astrid Siebenhaars auf Religi­o­ns­freiheit gemäß Artikel 9 einerseits und den Konven­ti­o­ns­rechten der evangelischen Kirche andererseits Astrid Siebenhaar einen ausreichenden Kündi­gungs­schutz gewährt hatte. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Eigen­stän­digkeit von Religi­o­ns­ge­mein­schaften gegen unzulässige staatliche Einmischung nach Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 11 (Verei­ni­gungs­freiheit) geschützt ist.

Arbeitsgericht waren befugt über Wirksamkeit der Kündigung nach staatlichem Arbeitsrecht zu entscheiden

Mit seinen Arbeits­ge­richten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfas­sungs­gericht erfüllt Deutschland im Grundsatz die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeits­recht­lichen Streitfällen. Astrid Siebenhaar hatte vor einem Arbeitsgericht geklagt, das dazu befugt war, über die Wirksamkeit ihrer Kündigung nach staatlichem Arbeitsrecht unter Berück­sich­tigung des kirchlichen Arbeitsrechtes zu entscheiden. Das Bundes­a­r­beits­gericht war zu der Auffassung gelangt, dass sich ihr Arbeitgeber im Anbetracht ihres aktiven Engagements für die „Universale Kirche“ nicht habe darauf verlassen können, dass sie seine Ideale respektieren würde.

Kündigung stellt notwendige Maßnahme dar, um Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren

Die deutschen Arbeitsgerichte hatten alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falls berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen. Nach Auffassung der Gerichte kam die Kündigung einer notwendigen Maßnahme gleich, um die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren, ein Interesse, das schwerer gewogen habe als Astrid Siebenhaars Interesse, ihre Stelle zu behalten. Die Gerichte hatten ferner die relativ kurze Betrie­bs­zu­ge­hö­rigkeit Astrid Siebenhaars berücksichtigt. Die Tatsache, dass die deutschen Gerichte den Interessen der evangelischen Kirche nach sorgfältiger Abwägung ein größeres Gewicht eingeräumt hatten als denen Astrid Siebenhaars, steht nicht an sich in Konflikt mit der Konvention.

Der Gerichtshof kam daher zu dem Schluss, dass keine Verletzung von Artikel 9 vorlag.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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