18.10.2024
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Dokument-Nr. 10306

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Urteil23.09.2010Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte425/03
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • DVBl 2011, 878Zeitschrift: Das Deutsche Verwaltungsblatt (DVBl), Jahrgang: 2011, Seite: 878
  • EuGRZ 2010, 571Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ), Jahrgang: 2010, Seite: 571
  • NZA 2011, 277Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA), Jahrgang: 2011, Seite: 277
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Vorinstanzen:
  • Arbeitsgericht Frankfurt am Main, Urteil26.01.1995, 2 Ca 402/94
  • Landesarbeitsgericht Hessen, Urteil05.03.1996, 7 Sa 719/95
  • Bundesarbeitsgericht, Urteil24.04.1997, 2 AZR 268/96
  • Bundesverfassungsgericht, Urteil27.06.2002, 2 BvR 356/99
ergänzende Informationen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil23.09.2010

EGMR: Ehebruch ist auch im kirchlichen Arbeitsrecht kein Grund für Kündigung eines KirchenmusikersGerichte müssen genau zwischen Rechten beider Parteien abwägen und Art der Tätigkeit berücksichtigen

Einem für Öffentlichkeits­arbeit zuständigen Mitarbeiter bei der Mormonischen Kirche in Europa kann bei anhaltender ehelicher Untreue gekündigt werden. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Im zugrunde liegenden Streitfall ging es um die Kündigung eines Arbeits­ver­hält­nisses durch einen kirchlichen Arbeitgeber wegen eines außerehelichen Verhältnisses des Arbeitnehmers. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasste sich zum ersten Mal mit der Kündigung von Kirchen­an­ge­stellten aufgrund von Handlungen, die dem Privatleben zuzuordnen sind.

Dienst­vor­ge­setzter spricht fristlose Kündigung wegen außerehelichen Verhältnisses zu einer anderen Frau aus

Michael Obst ist deutscher Staatsbürger, 1959 geboren, und lebt in Neu-Anspach. Er wuchs als Mormone auf und heiratete 1980 diesem Glauben entsprechend. Nach einer Reihe von Tätigkeiten in der Mormonenkirche wurde er 1986 deren Gebietsdirektor Öffent­lich­keits­arbeit für Europa. Anfang Dezember 1993 wandte er sich mit der Bitte um Rat an seinen zuständigen Seelsorger und vertraute ihm an, dass es mit seiner Ehe seit Jahren bergab gehe und er ein außereheliches Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt habe; dem Rat des Seelsorgers folgend sprach er schließlich mit seinem Dienst­vor­ge­setzten über die Angelegenheit. Dieser informierte ihn wenige Tage später über seine fristlose Kündigung. Michael Obst wurde später in einem internen Diszi­pli­na­r­ver­fahren exkommuniziert.

BAG: Kündigung war zur Wahrung der Glaubwürdigkeit für die Kirche notwendig

Michael Obst klagte vor dem Arbeitsgericht Frankfurt gegen seine Kündigung, die das Gericht mit Urteil vom Januar 1995 für ungültig erklärte. Das Landes­a­r­beits­gericht Hessen bestätigte das Urteil zunächst, das Bundes­a­r­beits­gericht hob es aber auf und verwies den Fall zurück. Nach Auffassung des Bundes­a­r­beits­ge­richts hatte Michael Obst die aus seinem Arbeitsvertrag resultierenden Pflichten verletzt. Das Gericht bezog sich außerdem auf ein Grundsatzurteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 4. Juni 1985 zur Wirksamkeit von Kündigungen kirchlicher Mitarbeiter wegen der Verletzung von Loyali­täts­pflichten. Kirchliche Arbeitgeber hätten demnach das Recht, Arbeits­ver­hältnisse eigenständig zu regeln, Arbeitsgerichte seien allerdings an die religiösen und moralischen Maßstäbe der Kirchen nur insoweit gebunden, als diese nicht mit den Grundsätzen der Rechtsordnung in Konflikt stünden. Die von der Mormonenkirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue widerspreche der Rechtsordnung aber nicht, da der Ehe im deutschen Grundgesetz auch eine herausragende Bedeutung zukomme. Die Kündigung sei für die Kirche notwendig gewesen, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren, die angesichts von Michael Obsts Verant­wort­lich­keiten als Gebietsdirektor Öffent­lich­keits­arbeit für Europa in Frage gestanden habe. Im Übrigen sei die Kirche nicht verpflichtet gewesen, eine vorherige Abmahnung auszusprechen, da Michael Obst im Anbetracht seiner langjährigen Tätigkeit für die Kirche die Schwere seines Fehlverhaltens habe bewusst sein müssen. Nach der Zurück­ver­weisung wies das Landes­a­r­beits­gericht die Klage Michael Obsts im Januar 1998 ab.

Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung angenommen

Die Revision zum Bundes­a­r­beits­gericht blieb erfolglos. Im Juni 2002 entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht unter Berufung auf sein Grundsatzurteil vom 4. Juni 1985, die Verfas­sungs­be­schwerde Michael Obsts nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Die Beschwerde wurde am 2. Januar 2003 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Die Mormonenkirche gab als Drittpartei eine schriftliche Stellungnahme ab.

Eigen­stän­digkeit von Religi­o­ns­ge­mein­schaften gegen unzulässige staatliche Einmischung rechtlich geschützt

Der Gerichtshof hatte darüber zu befinden, ob die von den deutschen Arbeits­ge­richten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht des Beschwer­de­führes auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 einerseits und den Konven­ti­o­ns­rechten der Mormonenkirche andererseits dem Beschwer­de­führer einen ausreichenden Kündi­gungs­schutz gewährt hatte. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Eigen­stän­digkeit von Religi­o­ns­ge­mein­schaften gegen unzulässige staatliche Einmischung nach Artikel 9 (Religi­o­ns­freiheit) in Verbindung mit Artikel 11 (Verei­ni­gungs­freiheit) geschützt war.

Mit seinen Arbeits­ge­richten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfas­sungs­gericht erfüllte Deutschland im Grundsatz die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeits­recht­lichen Streitfällen. In den beiden vorliegenden Fällen hatten die Beschwer­de­führer vor einem Arbeitsgericht geklagt, das dazu befugt war, über die Wirksamkeit ihrer Kündigung nach staatlichem Arbeitsrecht unter Berück­sich­tigung des kirchlichen Arbeitsrechtes zu entscheiden. Das Bundes­a­r­beits­gericht war zu der Auffassung gelangt, dass die von der Katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue der Rechtsordnung nicht widerspreche.

EGMR: Gerichte nehmen sorgfältige Abwägung der Interessen vor

Der Gerichtshof stellte fest, dass die deutschen Arbeitsgerichte alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falls berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen hatten. Sie hatten herausgestellt, dass die Mormonenkirche erst dadurch in die Lage versetzt war, Michael Obst aufgrund von Ehebruch zu kündigen, dass er die Kirche aus eigener Initiative darüber informiert hatte. Nach Auffassung der deutschen Gerichte kam seine Kündigung einer notwendigen Maßnahme gleich, um die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren, insbesondere angesichts seiner hervorgehobenen Position. Weiterhin waren die Gerichte darauf eingegangen, warum die Kirche nicht verpflichtet war, eine vorherige Abmahnung auszusprechen, und sie hatten darauf hingewiesen, dass der Schaden für Michael Obst durch die Kündigung, unter anderem in Anbetracht seines noch relativ jungen Alters, begrenzt war.

Beschwer­de­führer hätte sich über Unvereinbarkeit des außerehelichen Verhältnisses mit erhöhten Loyali­täts­pflichten bewusst sein müssen

Die Tatsache, dass die deutschen Gerichte den Interessen der Mormonenkirche nach sorgfältiger Abwägung ein größeres Gewicht eingeräumt hatten als denen Michael Obsts, stand nicht an sich in Konflikt mit der Konvention. Der Gerichtshof fand die Schluss­fol­gerung der deutschen Gerichte nachvollziehbar, dass die Mormonenkirche Michael Obst keine unannehmbaren Verpflichtungen auferlegt hatte. Da er als Mormone aufgewachsen war, war er sich darüber im Klaren gewesen, oder hätte es sein sollen, welche Bedeutung die eheliche Treue für seinen Arbeitgeber hatte und dass sein außereheliches Verhältnis mit den erhöhten Loyali­täts­pflichten als Direktor Öffent­lich­keits­arbeit für Europa unvereinbar war.

Der Gerichtshof kam einstimmig zu dem Schluss, dass im Fall Obst keine Verletzung von Artikel 8 vorlag.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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