Im zugrunde liegenden Streitfall ging es um die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch einen kirchlichen Arbeitgeber wegen eines außerehelichen Verhältnisses des Arbeitnehmers. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasste sich zum ersten Mal mit der Kündigung von Kirchenangestellten aufgrund von Handlungen, die dem Privatleben zuzuordnen sind.
Michael Obst ist deutscher Staatsbürger, 1959 geboren, und lebt in Neu-Anspach. Er wuchs als Mormone auf und heiratete 1980 diesem Glauben entsprechend. Nach einer Reihe von Tätigkeiten in der Mormonenkirche wurde er 1986 deren Gebietsdirektor Öffentlichkeitsarbeit für Europa. Anfang Dezember 1993 wandte er sich mit der Bitte um Rat an seinen zuständigen Seelsorger und vertraute ihm an, dass es mit seiner Ehe seit Jahren bergab gehe und er ein außereheliches Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt habe; dem Rat des Seelsorgers folgend sprach er schließlich mit seinem Dienstvorgesetzten über die Angelegenheit. Dieser informierte ihn wenige Tage später über seine fristlose Kündigung. Michael Obst wurde später in einem internen Disziplinarverfahren exkommuniziert.
Michael Obst klagte vor dem Arbeitsgericht Frankfurt gegen seine Kündigung, die das Gericht mit Urteil vom Januar 1995 für ungültig erklärte. Das Landesarbeitsgericht Hessen bestätigte das Urteil zunächst, das Bundesarbeitsgericht hob es aber auf und verwies den Fall zurück. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts hatte Michael Obst die aus seinem Arbeitsvertrag resultierenden Pflichten verletzt. Das Gericht bezog sich außerdem auf ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 zur Wirksamkeit von Kündigungen kirchlicher Mitarbeiter wegen der Verletzung von Loyalitätspflichten. Kirchliche Arbeitgeber hätten demnach das Recht, Arbeitsverhältnisse eigenständig zu regeln, Arbeitsgerichte seien allerdings an die religiösen und moralischen Maßstäbe der Kirchen nur insoweit gebunden, als diese nicht mit den Grundsätzen der Rechtsordnung in Konflikt stünden. Die von der Mormonenkirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue widerspreche der Rechtsordnung aber nicht, da der Ehe im deutschen Grundgesetz auch eine herausragende Bedeutung zukomme. Die Kündigung sei für die Kirche notwendig gewesen, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren, die angesichts von Michael Obsts Verantwortlichkeiten als Gebietsdirektor Öffentlichkeitsarbeit für Europa in Frage gestanden habe. Im Übrigen sei die Kirche nicht verpflichtet gewesen, eine vorherige Abmahnung auszusprechen, da Michael Obst im Anbetracht seiner langjährigen Tätigkeit für die Kirche die Schwere seines Fehlverhaltens habe bewusst sein müssen. Nach der Zurückverweisung wies das Landesarbeitsgericht die Klage Michael Obsts im Januar 1998 ab.
Die Revision zum Bundesarbeitsgericht blieb erfolglos. Im Juni 2002 entschied das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf sein Grundsatzurteil vom 4. Juni 1985, die Verfassungsbeschwerde Michael Obsts nicht zur Entscheidung anzunehmen.
Die Beschwerde wurde am 2. Januar 2003 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Die Mormonenkirche gab als Drittpartei eine schriftliche Stellungnahme ab.
Der Gerichtshof hatte darüber zu befinden, ob die von den deutschen Arbeitsgerichten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht des Beschwerdeführes auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 einerseits und den Konventionsrechten der Mormonenkirche andererseits dem Beschwerdeführer einen ausreichenden Kündigungsschutz gewährt hatte. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Eigenständigkeit von Religionsgemeinschaften gegen unzulässige staatliche Einmischung nach Artikel 9 (Religionsfreiheit) in Verbindung mit Artikel 11 (Vereinigungsfreiheit) geschützt war.
Mit seinen Arbeitsgerichten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfassungsgericht erfüllte Deutschland im Grundsatz die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeitsrechtlichen Streitfällen. In den beiden vorliegenden Fällen hatten die Beschwerdeführer vor einem Arbeitsgericht geklagt, das dazu befugt war, über die Wirksamkeit ihrer Kündigung nach staatlichem Arbeitsrecht unter Berücksichtigung des kirchlichen Arbeitsrechtes zu entscheiden. Das Bundesarbeitsgericht war zu der Auffassung gelangt, dass die von der Katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue der Rechtsordnung nicht widerspreche.
Der Gerichtshof stellte fest, dass die deutschen Arbeitsgerichte alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falls berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen hatten. Sie hatten herausgestellt, dass die Mormonenkirche erst dadurch in die Lage versetzt war, Michael Obst aufgrund von Ehebruch zu kündigen, dass er die Kirche aus eigener Initiative darüber informiert hatte. Nach Auffassung der deutschen Gerichte kam seine Kündigung einer notwendigen Maßnahme gleich, um die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren, insbesondere angesichts seiner hervorgehobenen Position. Weiterhin waren die Gerichte darauf eingegangen, warum die Kirche nicht verpflichtet war, eine vorherige Abmahnung auszusprechen, und sie hatten darauf hingewiesen, dass der Schaden für Michael Obst durch die Kündigung, unter anderem in Anbetracht seines noch relativ jungen Alters, begrenzt war.
Die Tatsache, dass die deutschen Gerichte den Interessen der Mormonenkirche nach sorgfältiger Abwägung ein größeres Gewicht eingeräumt hatten als denen Michael Obsts, stand nicht an sich in Konflikt mit der Konvention. Der Gerichtshof fand die Schlussfolgerung der deutschen Gerichte nachvollziehbar, dass die Mormonenkirche Michael Obst keine unannehmbaren Verpflichtungen auferlegt hatte. Da er als Mormone aufgewachsen war, war er sich darüber im Klaren gewesen, oder hätte es sein sollen, welche Bedeutung die eheliche Treue für seinen Arbeitgeber hatte und dass sein außereheliches Verhältnis mit den erhöhten Loyalitätspflichten als Direktor Öffentlichkeitsarbeit für Europa unvereinbar war.
Der Gerichtshof kam einstimmig zu dem Schluss, dass im Fall Obst keine Verletzung von Artikel 8 vorlag.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 23.09.2010
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online